Hyperbewusstheit, Grübeln und magisches Denken: Verschiedene Gesichter des Zwangs

Von Rosanna, 33 Jahre

Meine Zwangserkrankung hat sich im Kindesalter angeschlichen, so heimlich, wie nur ein Zwang das kann. Ich dachte immer, irgendetwas sei an meinem Denken oder Verhalten „komisch“. Gleichzeitig war ich überzeugt, dass das bestimmt alle irgendwie haben. Also normal halt. Nur, dass es sich eben nicht normal angefühlt hat.

Ich erinnere mich noch daran, wie ich meiner Mutter sagte, dass „irgendwas seltsam“ sei. So richtig Klick gemacht hat es, als ich in einer Jugendzeitschrift einen Artikel über das „Tourette-Syndrom“ gelesen habe. Der Titel passte heute betrachtet überhaupt nicht, denn beschrieben wurde eigentlich eine Frau mit Wiederholungszwängen und magischem Denken. Genau das, was ich auch hatte. Wenn ich zum Beispiel das Licht nicht in einer bestimmten Anzahl an- und ausmachte, hatte ich Sorge, dass jemandem etwas Schlimmes passieren würde.

So zog sich das Ganze durch meine Jugend. Kaum hatte ich ein Thema einigermaßen im Griff, suchte der Zwang sich ein neues Gebiet, das mir wichtig war. Der Zwang hat sich öfter mal inhaltlich verschoben und sich immer auf Themen gesetzt, die mir wichtig sind: vom magischen Denken über Wiederholungszwänge, Kontrollzwänge und Hygienezwänge bis hin zu Hyperbewusstheitszwängen und zwanghaftem Grübeln.

Ich recherchierte viel im Internet und begriff immer mehr, dass ich wohl eine Zwangsstörung habe, was mich damals sehr beruhigte. Ich verstand, dass es eine Krankheit und keineswegs normal ist. Dass man etwas dagegen tun kann.

Mit etwa 17 brachte meine Mutter mich zu einem Heilpraktiker. Der hat mein magisches Denken noch angefeuert, indem er meinte, ich könnte hellsehen (Spoiler: Nein, kann ich nicht).

Mit 18 ging es dann endlich zu einer Psychiaterin, die mich in eine Tagesklinik einwies und die Diagnose „Zwangsstörung“ stellte. Leider waren die Therapien damals nicht wirklich auf Zwänge ausgerichtet und rückblickend haben sie vieles eher verstärkt: Ich vermied ständig Dinge und holte mir dauernd Rückversicherungen beim Therapeuten. Genau das, was man nicht tun sollte.

Nach mehreren Klinikaufenthalten, diesmal mit mehr Verhaltenstherapie und Exposition, wurde ich langsam Expertin für meine eigene Krankheit. Trotzdem fand der Zwang immer wieder kreative Wege, um mir zu zeigen, dass er noch da ist. Ich habe sehr große Fortschritte mit der Verhaltenstherapie gemacht und übe weiterhin täglich durch spontane Expositionen. Erst habe ich sie bewusst geplant, zusammen mit meiner Therapeutin oder alleine.

Ich musste allerdings aufpassen, dass die Exposition nicht selbst zur Zwangshandlung wurde oder ich zwanghaft über die richtige Therapie nachgrübelte, wie ich alles richtig anwende.

Überblick verloren?
Hol dir unseren kostenlosen Info-Leitfaden!

Unser kostenloser Info-Leitfaden (PDF) hilft dir dabei, einen klaren Einstieg zu finden und herauszufinden, was dir in deiner Situation nun am meisten weiterhilft.

Zum Info-Leitfaden

Jetzt plane ich ab und zu auch eine Exposition, wenn ich merke, dass ein Thema zu aufdringlich wird. So klappt es mittlerweile meist gut, dem Zwang direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Seit einigen Jahren beschäftige ich mich auch mit ACT, was ich als sehr sinnvoll und als Lebenseinstellung betrachte. ACT ist ein Prozess und kein Lichtschalter, den man einfach anschalten kann.

So richtig verstanden habe ich viele meiner Symptome erst, als ich vor ein paar Jahren OCD Land entdeckt habe. Durch die Artikelreihen wurde mir klar, dass Grübeln auch eine Zwangshandlung ist und dass es noch viel mehr Arten von OCD gibt, als in jedem Lehrbuch stehen. Zum Beispiel Hyperbewusstheitszwänge. Ich dachte auch da immer, ich sei einfach so.

Ich musste auf meinen Atem achten, auf mein Schlucken, mein Blinzeln. Ich habe den ganzen Tag darüber gegrübelt, ob ich gerade „richtig“ atme. Und dann gab’s noch meinen linken Daumen, mein ständiger Begleiter. Ich musste immer kontrollieren, wie er sich anfühlt, was ich damit anfasse, ob „etwas Schlimmes“ passiert, wenn ich jemanden damit berühre. Du kennst das sicher: Der Zwang hat seine ganz eigene Logik. Rational weiß man, dass es Quatsch ist, aber das Gefühl hinkt hinterher.

In der Therapie wurde das leider erst nicht erkannt. Man schob meine Symptome auf eine Panikstörung. Erst 2025, also 15 Jahre nach meinem ersten Klinikaufenthalt, kam ich in eine spezialisierte Therapie für Menschen mit Zwangserkrankung. Dort wurde zum ersten Mal ernst genommen, dass meine Panikattacken eng mit dem Zwang zusammenhängen und dass der übertriebene Fokus auf meinen Atem nicht „Einbildung“ war, sondern eine Art des Zwangs.

Aktuell arbeite ich auch dahingehend weiter mit Expositionen, ACT und einer Prise Humor. Außerdem war ich wegen der Zwangsstörung und einer Depression, die sich dieses Jahr im Sommer noch dazu gesellt hat, in einer Klinik und wurde medikamentös eingestellt, was mir Stabilität gibt und die Zwänge weniger aufdringlich erscheinen lässt. Das verschafft mir große Erleichterung.

OCD Land hat mir sehr geholfen, besonders weil dort auch weniger bekannte Zwangsformen erklärt werden. Und eine Community zu haben, mit der man nicht alleine ist, ist Gold wert.

Mir ist es wichtig, anderen zu helfen und über die Erkrankung aufzuklären. Ich möchte, dass Zwänge früher erkannt werden und Betroffene schneller die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Dafür muss ich mich selbst „outen“, was mir noch schwerfällt. Meine Freunde wissen, dass ich psychische Probleme habe und alle haben volles Verständnis und reagieren sehr positiv darauf. Aber einige von ihnen wissen nicht, was ich genau habe. Ich habe mich lange dafür geschämt, aber das hat sich mit den Jahren gewandelt. Mittlerweile merke ich, wie wichtig es ist, offen zu sprechen. Für mich selbst und für andere.

Ich hoffe, dass ich durch meine Geschichte ein kleines bisschen dazu beitragen kann, OCD zu entstigmatisieren – für Betroffene und Nicht-Betroffene.

Rosanna, 33 Jahre

Hinweis: Du willst deine Geschichte teilen? Schreibe uns eine E-Mail an oder eine Nachricht bei Instagram.