Niemand muss sich für sexuelle Zwangsgedanken schämen

Von Maggy, 20 Jahre

2019 sollte eigentlich mein Lieblingsjahr werden. Denn eigentlich würde ich mit meinem Freund zusammenziehen, meine Therapie beenden und viele Konzerte besuchen. Doch alles kam anders ...

Mein Spitzname ist Maggy. Ich bin Autistin und kann im Rückblick erkennen, dass ich mein ganzes Leben schon Angst empfunden und Zwänge benutzt habe, um diese zu regulieren. Ich habe OCD. In diesem Bericht möchte ich ein wenig über meine Hauptzwänge reden und den Betroffenen die Angst und der Welt das Stigma nehmen, vor allem vor sexuellen Zwangsgedanken - denn Zwänge werden oft missverstanden.

Ich bin sicher, dass jedes Thema, um das sich der Zwang dreht, gleichbehandelt werden kann. Es macht in der Behandlung des Zwangs keinen Unterschied, ob man fürchtet, eine schlimme Krankheit zu bekommen oder ob dem Kind nachts etwas passieren könnte, wenn man nicht stets jede halbe Stunde kontrolliert, ob alles okay ist.

Schmerzhaft ist jeder Zwang. Der eine Zwang ist nicht besser als der andere und die betroffene Person, die zwanghaft die Hände wäscht, hat die gleiche Hilfe verdient wie die Menschen die unter aggressiven Zwangsgedanken leiden.

Zwänge sind egodystonisch. Das bedeutet, die Zwangsgedanken greifen die Wertevorstellung der Betroffenen an. Sie gehen GEGEN die Persönlichkeit einer Person. Deshalb tun sie so sehr weh. Die Betroffenen mögen die Gedanken nicht.

Beispiel: Wenn du deinen Hund sehr liebst und unter Zwangsgedanken leidest, könnte ein Gedanke sein „Was wäre, wenn ich ihm weh tue?" (Ein Gedanke, den jeder normale Mensch haben könnte. Denn unser Gehirn versucht immer unterbewusst Gefahren abzuwägen und Lösungen zu suchen). Dieser Gedanke würde dich so erschrecken, dass du beginnst Rituale zu suchen, damit du zu 100% sicher sein kannst, dass deinem Hund nichts passiert (zum Beispiel zwanghaft die Minuten zu zählen, die du mit deinem Haustier verbringst). Das heißt nicht, dass du ein schlechter Mensch bist! Im Gegenteil, du willst deinen Hund sogar beschützen. Dein Kopf registriert nur nicht, dass es keinen Grund dafür gibt. Also werden die Ängste durch zwanghafte Handlungen und Gedanken beruhigt.

Warum drehen sich Zwänge immer um bestimmte Themen?

Der Zwang wird sich immer um das handeln, was einem wichtig ist. Das können Hobbys, Beziehungen, Familienmitglieder, Tiere, Nummern, die Berufung, eine Religion, eine Moralvorstellung oder die Hygiene sein.

Weil ich meine Beziehung liebe und ich mir wünsche, alle Kinder auf der Welt beschützen zu können, griff der Zwang diese Themen an. Ich wünschte mir so sehr, eine gute Freundin zu sein und ein guter Mensch, dass es obsessiv wurde. Meine Sorge um meine Gesundheit führte zur Hypochondrie.

Puh, Zwangsgedanken hören sich ganz schön heftig an, oder? Ja, sind sie manchmal auch, doch es gibt so viele wunderbare Hilfe und Unterstützung.

Falls du unter Zwängen leidest oder dich sogar eins der eben genannten Themen belastet, habe ich ein paar großartigen Nachrichten für dich.

Du bist nicht alleine

Du bist KEIN schlechter Mensch

Es gibt tolle Möglichkeiten, Zwänge zu behandeln!

Kontrollzwänge

Die ersten Erinnerungen an Zwangsgedanken bringen mich zurück in mein sechstes Lebensjahr. Immer wieder musste ich in der Schule meine Hausaufgaben kontrollieren, als könnten diese auf magische Weise verschwinden, würde ich die Papiere nicht jede Stunde mit den Fingern berühren. Kontrollzwänge verfolgen mich bis heute - Busfahrkarten, Ketten, der Autoschlüssel und Türen etc. mussten in verschiedenen stressigen Lebenssituationen stets kontrolliert werden. Kontrollzwänge haben schon zu oft dafür gesorgt, dass ich verspätet zu einem Termin erschienen bin oder mein Date sich fragte, warum ich so lange im Bad bin („Vielleicht sollte ich nochmal nachsehen, ob ich wirklich gespült habe und sind die Hände wirklich ordentlich gewaschen?").

Außerdem musste meine beste Freundin mir immer Rückversicherungen geben, dass ich keinen Krebs habe und nicht wieder zum Arzt muss.

Zwänge und die Sexualität

Als ich älter war, folgte eine Phase in der ich meine Sexualität andauernd hinterfragte. Obwohl ich nicht religiös bin, fühlte ich mich gezwungen meine Gefühle für eine Freundin davonzubeten, nachdem eine Klassenkameradin mir erzählte, ihr Vater hätte gesagt, „lesbische und schwule Menschen würden in die Hölle kommen".

Als ich glaubte, die Obsessionen würden sich gelegt haben, lernte ich meinen ersten Freund kennen. In dieser Zeit schlich sich ein neuer Zwang ein: Was ist, wenn ich nur so tue, als würde ich bi sein?

Es war bedrückend, da ich meine Lieblingsmusik vermied und queere Freunde seltener traf. Ich hatte auch die ständige Angst, meinen Freund ganz plötzlich nicht mehr attraktiv zu finden.

Um ehrlich zu sein, mir hat es nie gut getan, mich in Schubladen zu stecken, also ist es eine tolle Exposition für mich auszusprechen: ich weiß meine Sexualität nicht.

Aus eigener Erfahrung kann ich behaupten, dass Menschen, die Zwänge in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung erfahren, diese nicht hinterfragen wie es gesunde Personen täten.

Wenn also eine heterosexuelle Person einen Zwang hat, welcher sie hinterfragen lässt schwul/lesbisch oder transsexuell zu sein, und dieser Person das große Angst macht, bedeutet das nicht, dass sie homophob ist, sondern, dass es anstrengend ist, andauernd und zwanghaft an der eigenen Identität zu zweifeln. Eine Identität, mit der man im gesunden Zustand im Reinen ist. Obsessive Zweifel an der Identität können auch bei allen anderen Mitgliedern der LGBTQ+ Community entstehen.

Zwänge und Liebe/Werte

Zwänge greifen das an, was man am meisten schätzt. Mein größter Zusammenbruch überkam mich, als ich eine Depression spürte und eine frühere, unprofessionelle Therapeutin mir riet, mich von meinem Freund zu trennen. Obwohl ich wusste, dass dies Unsinn war verfolgte mich der Gedanke: Was ist, wenn sie in Wahrheit recht hat?

Plötzlich schlich sich erst unscheinbar, dann immer stärker der Zwang an: Würde ich nur 10 Mal meinen Lichtschalter betätigen, würde das beweisen, dass ich meinen Freund genug liebe und die Beziehung verdient habe. Das ist natürlich Unfug. Doch ich konnte die Unsicherheit nicht aushalten.

Als ich durch die richtige Therapie lernte, solche Zwangshandlungen zu unterlassen, kam mir oft der Gedanke „Du machst die Zwangshandlungen nicht mehr, das bedeutet du liebst ihn nicht". Das ist ein erschreckender Gedanke. Aber es ist normal, dass die Ängste sich erst schlimmer anfühlen, bevor sie besser werden. Mein Zwang wollte mir auch schon unterstellen, meinen Freund betrogen und es vergessen zu haben. Heute kann ich über diese Gedanken lachen. Ich liebe meinen Freund über alles. Er ist mein bester Freund, Beschützer und ein hervorragender Zuhörer. Falls es dir so geht, wie mir: vertraue der Liebe und nicht der Stimme von OCD.

Wie erkennst du die Stimme vom Zwang? Sie fühlt sich immer dringend an, als würde die Welt untergehen, wenn man nicht JETZT das Ritual durchführt oder sich obsessiv beruhigt. Und sie lügt!!

Genauso wie ich meinen Freund liebe, liebe ich die Vorstellung irgendwann eine Familie zu gründen. Es ist etwas, das mir Hoffnung bringt. In einer Zeit der Veränderung und großem Stress, nahm mir der Zwang meine Hoffnung: Was wäre, wenn du eine böse Mutter werden würdest?

Der Gedanke kam mir, nachdem Freunde sich über einen furchtbaren Fall eines Straftäters unterhielten, über welchen in einer True-Crime-Sendung berichtet wurde. Eine Freundin fragte, ob man wohl so werden kann. Ein harmloser Kommentar, alle redeten und lachten weiter. Doch meine Gedanken rasten.

Mein Zwangsgedanke gestaltete sich folgendermaßen "Was kann ich tun, damit meine Freunde und ich niemals so werden?". Natürlich kann ich die Taten von meinen Freunden nicht beeinflussen, aber rational funktionieren Zwänge nicht.

Ich konnte nicht mehr unbeschwert Zeit mit Kindern verbringen, denn ich sah überall Gefahren. Ich sah mich auch selbst als Gefahr. Die Szenen der True-Crime-Sendung verfolgten mich, ekelten mich so sehr an, dass ich sie nicht loslassen konnte. Ich verstand nicht, wie ein Mensch so etwas tun konnte.

Ich hatte auch pädophile Zwangsgedanken. Und diese müssen sich nicht auf einen selbst beziehen. „Was wäre, wenn meine Freundin pädophil wäre?" war ein Zwangsgedanke, welcher mich verfolgte und ich verstand nicht, wieso. Jetzt weiß ich: Zwangsgedanken sind nicht rational, sondern basieren auf Angst.

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Vielleicht hast du dich mal als Kind gefragt: „Was wäre, wenn da ein Monster unter meinem Bett wäre?" Dann schauen die Eltern nach, versichern dir, dass alles in Ordnung ist. Und doch bleibt die Angst, denn „was wäre, wenn doch?" Kein Nachsehen, kein Kontrollieren wäre jemals genug um die Furcht enden zu lassen. Man muss in der Unsicherheit schlafen, dass man es nicht weiß und nicht nachzusehen braucht. Irgendwann vergisst man, dass ein Monster unter dem Bett sein könnte. So fühlen sich Zwangsgedanken an.

Ich suchte nach einem Beweisen, dass alles gut ist. Dass keine aktuellen Gefahren da sind. Ich suchte Sicherheit, indem ich meine Gedanken kontrollierte.

Ich vertraute mich jemanden an und die Person erzählte mir von merkwürdigen Gedanken nach einer Geburt. Ich lernte, dass wir alle Gedanken haben, die nicht zu uns passen, wenn man sich um jene oder jenes sorgt, was man liebt. Diese Welt kann sich auch mal so durcheinander und gefährlich anfühlen, dass unser Beschützerinstinkt mit uns durchgeht.

Ich bin dieser furchtbaren Zeit so dankbar.

Ich lernte OCD Land kennen und fand heraus, dass es einen Namen gab für all die Zweifel, die mich mein ganzes Leben lang quälten. Heute habe ich manchmal einige intrusive Gedanken, doch die hindern mich nicht daran, Zeit mit Kindern zu verbringen. In der Therapie begann ich sogar über sie zu lachen, weil diese Zwangsgedanken so abwegig und irrational sind.

Meine aktuelle Therapeutin ist zwar nicht auf Zwänge spezialisiert, sondern auf Autismus, doch gemeinsam lernten wir über Exposition und Reaktionsverhinderung und dass viele autistische Menschen Zwänge entwickeln.

Autistische Personen können vieles als zu laut, hektisch und beängstigend empfinden, also suchen wir jede Kontrolle und Rückversicherung, die wir kriegen können. Das kann, ohne die richtige therapeutische Begleitung, in einer Zwangsstörung enden.

So begegne ich unangenehmen Zwangsgedanken:

  • Aufklärung (Podcast: „Your Anxiety Toolkit" / Instagram Seite „The_OCDproject")

  • Über ERP lernen: Expositionen und Reaktionsverhinderung

  • Unsicherheit akzeptieren. Auf Zwänge mit „Vielleicht, vielleicht auch nicht" reagieren

  • Unangenehme Gefühle und Empfindungen akzeptieren

  • Zwanghafte Rituale, Rückversicherungen und Beruhigungen reduzieren

  • Mit Achtsamkeit wieder den Vermeidungen begegnen - das nennt man Expositionen. Man handelt also nach seinen Werten/Hobbys/Interessen und nicht nach den Ängsten/Zwängen:

    • Ich schaue Kinderfilme mit meiner Schwester (ohne Sicherheitsrituale)

    • Ich höre Lieder über Liebeskummer und Trennungen (Exposition: für Ängste in der Beziehung)

    • Ich lese einen Roman über Krebs (Exposition: für Hypochondrie)

Ich bin stolz auf alles, was ich bisher geschafft habe. Ich bin stolz darauf, mich nun innerhalb meines Support-Teams oder auch auf Social Media offen über die mentale Gesundheit auszutauschen. Ich schäme mich nicht für meine Zwangsgedanken. Sie quälten mich zwar, aber sie bestimmen nicht, wer ich bin und wer ich sein möchte.

Dies ist ein Satz, den ich für eine lange Zeit geglaubt hätte, nie wieder zu schreiben: Ich liebe meinen Freund und ich freue mich irgendwann Kinder zu bekommen. OCD hat hier kein Mitspracherecht mehr.

Falls du unter sexuellen Zwangsgedanken leidest, welche deine Moral angreifen: Du bist ein großartiger Mensch und falls du bereits Kinder hast, bin ich mir sicher, dass sie stolz auf dich sind, dass du dich so tapfer jeden Tag wieder deinen Ängsten stellst. Du schaffst das! Die Mühe lohnt sich.

Meist werden besonders emphatische, liebevolle Menschen mit besonders schlimmen Zwangsgedanken gequält, weil sie uns noch mehr bedrücken. Ich habe von Müttern gehört, dass sie nach der Geburt pädophile Zwangsgedanken hatten, weil das Kind das Kostbarste in ihrem Leben ist und sie alles tun würden, um es zu schützen, also wurden sie durch Themen wie Kindermissbrauch getriggert. Wir müssen über diese Ängste reden.

Manchmal denken, denken & denken wir, bis wir uns beruhigt haben, doch machen dabei den Zwang nur schlimmer. Lass die Gedanken nur Gedanken sein und genieße die Zeit mit den Menschen, die du so liebst. „One day you will look back and see that all along you were blooming". Ich glaube an dich!

Maggy, 20 Jahre

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