Vom Herzrasen in die Zwangsspirale: Wie Health OCD mein Leben übernahm

Von Annabel, 41 Jahre

Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als mein Herz plötzlich raste. Ein Puls von 180 bpm, Schwindel, Zittern, Kribbeln in allen Gliedmaßen bis zum Einsetzen der Pfötchenstellung meiner Hände. Neben mir meine sieben Monate alte Tochter. Es war, als würde mein Körper von einer Sekunde auf die andere außer Kontrolle geraten. Ich war mir sicher, dass ich sterbe.

Später stellte sich heraus, dass ich tatsächlich eine Herzrhythmusstörung hatte. Zwar hatte ich diese Art von Herzrhythmusstörung bereits seit meinem 18. Lebensjahr. Ende 2018 jedoch hörte sie nicht, wie gewohnt, nach etwa 30 Sekunden auf. Sie hielt an – und erst später wurde mir klar, dass sich eine Panikattacke obendrauf gesetzt hatte.

Wenige Wochen nach diesem ersten Vorfall folgte eine Herzkatheteruntersuchung mit Verödung. Beide Erlebnisse waren körperlich und seelisch extrem belastend. Ich hatte das Gefühl, mein Körper hätte mich im Stich gelassen.

Leben im Alarmzustand

Nach dieser Zeit begann ich, jedes Signal meines Körpers zu beobachten. Ein Ziehen, ein Pochen, ein Stolpern – und sofort war die alte Angst wieder da. Ich googelte Symptome, suchte nach Erklärungen, maß meinen Puls. Es gab Zeiten, da konnte ich meinen Puls nennen, ohne ihn überhaupt zu messen – so fein war mein Körper auf jede Veränderung eingestellt.

Ich war ständig in Alarmbereitschaft, innerlich wie äußerlich. Die Angst schränkte mein Leben immer mehr ein: Ich traute mich nicht mehr, Auto zu fahren, das Haus allein zu verlassen oder auch nur allein zu Hause zu sein – immer begleitet von der quälenden Vorstellung, ich könnte einfach tot umkippen und meine Kinder könnten mich verlieren.

Rückblickend war das der Beginn meines Health OCD – auch wenn ich das damals noch nicht wusste. Ich dachte, ich sei einfach ein Mensch mit Angst vor Krankheiten. In Wirklichkeit war ich längst in einem Strudel aus Kontrolle, Zweifeln und Sicherheitssuchen gefangen.

Verzweifelte Suche nach Heilung

Schon Anfang 2019 war ich in tiefenpsychologischer Therapie, machte zusätzlich eine Gruppentherapie (MCBT), sprach über Angst, Trauma und Vertrauen – aber nie fiel das Wort Zwangsstörung. Ich arbeitete an Entspannung, an Gedankenmustern, an meiner Beziehung zu Angst und wurde medikamentös eingestellt.

Doch tief in mir blieb etwas Unruhiges, ein Kreislauf, der sich nicht brechen ließ. Mein Körper war mein ständiger Prüfstein, meine Gedanken mein Gegner. In dieser Zeit suchte ich verzweifelt nach Antworten – und nach Heilung. Ich probierte alles, was mir Hoffnung versprach: Nahrungsergänzungsmittel, alternative Heilmethoden, Atemtechniken, Energiearbeit. Ich klammerte mich an jeden noch so absurden Strohhalm, wenn er nur das Versprechen enthielt, dass es „endlich besser“ werden könnte. Der Höhepunkt dieser Suche war der Kauf eines kleinen Frequenzgeräts, das mir für 2.000 € Linderung versprach. Ich weiß heute, dass das nicht rational war – aber in dem Moment war es Ausdruck purer Verzweiflung. Ich wollte einfach nur, dass mein Körper endlich aufhört, Alarm zu schlagen.

Als die Gedanken dunkler wurden

Und dann, vier Jahre später, passierte etwas, das alles veränderte. Ich bekam aggressive Zwangsgedanken gegenüber meinen Kindern. Sie trafen mich völlig unvorbereitet – wie ein Schock. „Warum denke ich so etwas?“, „Will ich meinen Kindern tief im Innern etwas antun?“, „Bin ich böse?“, „Verliere ich nun den Verstand?“

Und dabei blieb es nicht: In meinem Kopf tauchten auch intrusive Sätze auf wie „Du willst jemanden töten.“ Ich war entsetzt und voller Scham. Panik machte sich breit. Ich verstand nicht, was mit mir geschah – ich liebte meine Kinder über alles, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mein eigener Kopf verrate mich.

Als ich mich meiner damaligen Therapeutin anvertraute, reagierte sie besorgt. Sie wollte mich wegen einer möglichen Psychose einweisen. Dieser Moment hat mich tief erschüttert – ich fühlte mich noch schuldiger, noch fremder in meinem eigenen Erleben. Und meine Ängste wurden bestätigt. Ich war gefährlich.

Wenig später kamen suizidale Zwangsgedanken hinzu – keine echten Absichten, sondern quälende „Was, wenn“-Gedanken wie: „Was, wenn es mir irgendwann so schlecht geht, dass ich nicht mehr leben will?“ Diese Vorstellung machte mir furchtbare Angst. Ich wollte leben – aber ich hatte Angst vor meinem eigenen Kopf. Der absolute Tiefpunkt. Ich wusste weder vor noch zurück.

Die Wende: endlich eine Erklärung

Völlig erschöpft von den Jahren der Angst und dem Versuch, sie zu kontrollieren, begann ich dann (mal wieder) zu recherchieren – und das erste Mal stieß ich auf OCD Land. Ich las das Wort Zwangsgedanken und bestellte das Buch „Tyrannen in meinem Kopf“.

Plötzlich ergab alles Sinn: die Kontrolle, die Angst, die Grübelschleifen, die Schuldgefühle. Ich hatte OCD – nicht, weil ich gefährlich oder verrückt war, sondern weil mein Gehirn versuchte, mich zu beschützen. Das zu verstehen war gleichzeitig schmerzhaft und befreiend.

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Mein Weg in die Heilung

Ich begann, mich wirklich mit OCD auseinanderzusetzen. Ich entschied mich, in die Tagesklinik des UK Bonn zu gehen, und lernte dort mit Hilfe einer Therapeutin mit Zwangs-Expertise durch Expositionen, mich den Ängsten schrittweise zu nähern. Ich besuchte eine Selbsthilfegruppe (unter Leitung von Dr. Katharina Bey) und erlebte zum ersten Mal, dass ich mit meinen Gedanken nicht allein bin. Ich lernte, dass Akzeptanz kein Aufgeben bedeutet, sondern ein Loslassen des Kampfes. Dass Nervensystemarbeit mir half, meinen Körper wieder als sicheren Ort zu empfinden. Und dass Selbstmitgefühl kein Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit.

Die Psychoedukation gab mir schließlich das Verständnis, das mir jahrelang gefehlt hatte: Ich verstand, wie OCD funktioniert – und dass ich Wege finden kann, damit zu leben.

Heute: Frieden mit Körper und Kopf

Heute weiß ich: Mein Herzstolpern ist nicht mein Feind. Eine Augenaura bedeutet keinen Hirntumor und Taubheitsgefühle in den Zehen keine MS. Ich kann es spüren, ohne in Panik zu geraten. Ich kann Gedanken kommen und gehen lassen, ohne sie zu bekämpfen.

Ich habe noch Symptome, ja. Gelegentlich, in sehr stressigen Zeiten, kommen neue und andersartige Symptome auf. Ich fahre zum Beispiel falsch in eine mir bekannte Einbahnstraße und gerate in Panik, dass mein Verstand nicht mehr richtig funktioniert – oder ich habe Meta-OCD.

Und dennoch: Diese Gedanken bestimmen nicht mehr mein Leben. Derartige Episoden tauchen auf – aber sie vergehen auch wieder. Und diese Zuversicht bleibt. Ich habe es einmal rausgeschafft, und mit dem heutigen Wissen werde ich wahrscheinlich nicht mehr so tief hineingeraten. Ich lebe wieder. 

Ich weiß heute auch, dass sich der Zwang immer auf das setzt, was einem am wichtigsten ist. Bei mir sind das meine Kinder, meine Gesundheit und mein Verstand – Themen voller Liebe, Bedeutung und Verantwortung. Gerade deshalb waren die Zwangsgedanken so quälend. Aber dieses Wissen hilft mir, ihre Mechanismen zu verstehen – und sie nicht mehr für wahr zu halten.

Ich weiß inzwischen auch, dass Stress OCD befeuert. In stressigen Phasen rechne ich also schon im Voraus ein bisschen damit, dass etwas kommen könnte – Herzstolpern, Unruhe, Gedanken, verschwommenes Sehen, extreme Geräuschempfindlichkeit. Das macht es leichter, ruhig zu bleiben, wenn es passiert. Ich kämpfe nicht mehr dagegen, sondern erkenne: Da ist es wieder – und es darf vorbeiziehen.

Diese Erfahrung, diese Diagnose – so schwer die Zeit auch war und gelegentlich noch ist – hat mich im Grunde stärker gemacht. Ich habe gelernt, OCD nicht als Feind zu sehen, sondern als etwas, das mir hilft, besser auf meine mentale Gesundheit zu achten, Grenzen zu setzen, mich nicht nonstop zu überfordern. Ich versuche, den Zweck hinter den Symptomen zu verstehen und erkenne, dass OCD mich auf seine Weise eigentlich schützen will – so paradox sich das oft auch anfühlt.

Vor allem, wenn körperliche Symptome auftauchen, die mir durch meine Hochsensibilität häufig viel intensiver erscheinen und sich bedrohlicher anfühlen, als sie sind. In der Regel sind sie ein Zeichen dafür, dass irgendwo etwas im Ungleichgewicht ist, das angeschaut werden will. Und genau das tue ich heute – mit mehr Bewusstsein, Sanftheit und Vertrauen als je zuvor.

Was ich anderen sagen möchte

Wenn ich etwas weitergeben darf, dann das: Wenn Du glaubst, Deine Gedanken machen Dich zu einem schlechten Menschen, wenn Du Dich fürchtest vor dem, was Dein Kopf Dir zeigt – dann bist Du nicht gefährlich, sondern mutig.

Denn Du spürst die Diskrepanz, die OCD ausmacht: das tiefe Bedürfnis, gut zu sein, während Dein Gehirn Dir das Gegenteil einflüstert.

OCD ist kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Zeichen, dass Dein System überlebt hat – und jetzt lernen darf, wieder zu vertrauen. Und das ist möglich. Ich bin der Beweis.

Kleiner Funfact:

Ich habe meinem OCD einen Namen und ein Aussehen gegeben. Er heißt Rudi und ist ein kleiner, dicklicher, schmieriger Typ – unangenehm, aber harmlos. Ich habe ihn in einer KI sorgfältig beschrieben, und so wurde mir dieses Bild ausgespuckt, das aus meiner Sicht sehr gut passt. Mit dieser Verbildlichung fällt es mir oft leichter, dem Zwang die kalte Schulter zu zeigen.

Die KI-Version meines Zwangs namens "Rudi"

Annabel, 41 Jahre

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