Von der Meditation in den Denkzwang – und wie ich mit ChatGPT wieder rausfand

Von Florian, 33

Im Jahr 2021 erkrankte ich an einer leichten Form der Depression, der ich neben einer kurzen psychotherapeutischen Begleitung mit einem achtsamkeitsbasierten Ansatz (d. h. Meditation etc.) begegnete. Daraus entwickelte sich jedoch schnell eine Hyperfokussierung auf den eigenen Denkprozess – eine Kontrolle der Gedankenwelt. Dies sowie meine Versuche, den Zwang mithilfe geeigneter Verfahren, unter anderem unterstützt durch ChatGPT, aufzulösen, schildere ich in diesem Bericht.

Kontraproduktive achtsamkeitsbasierte Meditation

Nachdem ich nach dem Tod eines nahen Angehörigen im Jahr 2021 eine relativ schwierige Phase in meinem Leben zu bewältigen hatte, rutschte ich in eine leichte Depression. Es gelang mir, einen Therapieplatz zu bekommen. Im Rahmen dieser kurzen Therapie wurde mir unter anderem geraten, es einmal mit einem achtsamkeitsbasierten Ansatz zu versuchen. 

Der Grundgedanke dabei ist – wie allgemein bekannt – die bewusste Beobachtung der Gedankenwelt ohne deren Bewertung. Das bedeutet eine gezielte Erhöhung der Introspektion zur Auflösung negativer Assoziationen mit potenziell belastenden Gedankenmustern. Soweit, so gut.

Das Problematische an dieser Methode war für mich der erste Teil. Das Ganze geriet nämlich ziemlich schnell außer Kontrolle, sodass aus einer gelegentlichen, im Rahmen einer Meditation durchgeführten „Beobachtungssitzung“ ein konstantes Beobachten der Gedankenwelt wurde – ein dauerhaftes Screening des Gedankenflusses und der darin enthaltenen Inhalte sowie eine Verlagerung kognitiver Kapazitäten vom normalen Denkprozess hin zum Monitoring desselben. 

Das „Beobachten“ empfand ich als fremd, als kontaminierend und als „nicht zu mir gehörig“. Das war natürlich äußerst belastend, zumal sich das Ganze schnell verselbstständigt hatte und – bis auf die Nachtstunden – jede Minute des Denkens, situationsunabhängig, beeinflusste.

Ohne Kenntnis dieses Krankheitsbildes versucht man natürlich alles Erdenkliche, um dieses „Symptom“ zu bekämpfen. Man versucht auf vielfältigste Weise, irgendwie zu verhindern, weiterhin auf seine Gedanken zu achten – und achtet damit nur noch stärker auf sie. 

Das beinhaltet die klassischen Strategien, die man so findet: den „Gedankenstopp“ oder eine bewusste Verlagerung der Aufmerksamkeit nach außen, also gewissermaßen die Umkehrung der Introspektion. Darüber hinaus kamen bei mir der Einsatz von Alkohol, übermäßiger Sport sowie umfangreiches Recherchieren im Internet hinzu.

Wie ich heute weiß – unter anderem auch durch die Podcasts auf dieser Seite – handelte es sich bei all diesen Strategien um Zwangshandlungen. Besonders das Recherchieren nahm riesige Ausmaße an: Ich beschäftigte mich detailliert mit den chemischen Prozessen im Gehirn, den beteiligten Botenstoffen, deren Einfluss auf die psychische Verfassung und wie man diese beispielsweise durch Nahrungsergänzungsmittel oder Sport beeinflussen kann.

Schlüssel der Erkenntnis

Dennoch blieb dabei immer eine Frage offen: Um welches Krankheitsbild handelt es sich konkret? In mir wuchs die Angst, gewissermaßen ein neues, schreckliches Kapitel psychischer Erkrankungen eröffnet zu haben – sozusagen als „Patient Zero“ für eine Krankheit, die es so noch nicht gibt, für die es keine Heilung gibt und kein Interesse besteht, eine solche zu entwickeln.

Der Schlüsselmoment war dann, als ich im Internet nach „Angst vor Schizophrenie“ suchte. Es schien tatsächlich eine krankhafte Angst davor zu geben, an Schizophrenie zu erkranken – beziehungsweise allgemeiner: den Verstand zu verlieren. Häufig zeigt sich das in Form einer zwanghaften Fokussierung auf Körperprozesse, die eigentlich keiner genaueren Beschäftigung bedürfen. Und das ist natürlich die Lehrbuchdefinition der Unterform der Zwangsstörung „Hyperawareness OCD“.

Die Erkenntnis, eben nicht „Patient Zero“ zu sein, war eine enorme Erleichterung. Erstens ist ein geteiltes „Schicksal“ immer ein halbes, und zweitens bedeutete das, dass es auch Behandlungsansätze geben musste.

Problematisch war nun, dass sich die – auch bei OCD Land und auf anderen Internetseiten beschriebenen – Hyperfokussierungs-Zwänge vor allem auf haptische Vorgänge wie Atmen, Blinzeln, Sprechen usw. bezogen. Die Expositionsmethode dafür war gut beschrieben und ergab Sinn. Aber wie sollte man das auf den Denkprozess übertragen?

Ich versuchte zunächst, die Beobachtung meiner Gedanken im Liegen auf dem Bett bewusst maximal zu intensivieren. Das war allerdings lediglich sehr anstrengend – einen positiven Effekt konnte ich nicht feststellen.

Behandlungsansatz der künstlichen Intelligenz

Ich kam dann auf die Idee, das Ganze mal einer KI „hinzuwerfen“, und ChatGPT spuckte mir schließlich etwas aus, das ich vielleicht auch beim genaueren Hören der Podcasts von OCD Land selbst herausgefunden hätte – nämlich: Es geht nicht um den Inhalt des Zwangs an sich, sondern um die Angst, die dahintersteckt.

Stand heute bin ich der Meinung, dass der Kern meiner Angst vor allem den Kontrollverlust betrifft – zum einen in Bezug auf mein Umfeld und meinen Alltag, aber auch in Bezug auf meine eigene Gesundheit. Das passte insofern gut, als ich in meinem früheren Leben als hobbymäßiger Hypochonder unterwegs war, was im Grunde perfekt das Bedürfnis nach Kontrolle über den eigenen Gesundheitszustand sowie ein absolutes Misstrauen in die Fähigkeiten des eigenen Körpers widerspiegelt. Entsprechend ist es absolut logisch, dass meine Kernangst darin besteht, die Kontrolle über den Geist zu verlieren – und ihn deshalb zwanghaft beobachten zu müssen.

Überblick verloren?
Hol dir unseren kostenlosen Info-Leitfaden!

Unser kostenloser Info-Leitfaden (PDF) hilft dir dabei, einen klaren Einstieg zu finden und herauszufinden, was dir in deiner Situation nun am meisten weiterhilft.

Zum Info-Leitfaden

Die KI ging sogar so weit, mir nicht nur einen Vorschlag zu machen, wie ich Expositionen aufbauen sollte, sondern erstellte mir einen detaillierten Plan – mit schrittweiser Steigerung der Intensität, der Anwendungsdauer usw.

Lange Rede, kurzer Sinn: Meine Expositions-Sessions bestehen heute darin, mir bewusst und so intensiv wie möglich die absoluten Horrorszenarien vor mein inneres Auge zu holen – also den Totalverlust des eigenen Bewusstseins, die lebenslange Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, den Verlust meines Lebensentwurfs sowie die Unmöglichkeit, meine Träume und Ziele zu verwirklichen und damit die einzige Chance in meinem einen Leben zu verspielen. 

Diese Vorstellungen und die Angst vor der Unmöglichkeit, all das mit letzter Sicherheit ausschließen zu können, auszuhalten, ist natürlich sehr anspruchsvoll – aber ein äußerst wirksames Tool. Denn einige Zeit nach Beginn stellte ich eine spürbare Besserung meiner Symptomatik fest.

Darüber hinaus versuche ich auch im Alltag, die Unmöglichkeit völliger Kontrolle zu akzeptieren. Ich baue gezielt Situationen ein, die mit einem leicht erhöhten Maß an Unsicherheit verbunden sind – zum Beispiel nicht nachzusehen, wann der nächste Bus fährt, sondern einfach zur Haltestelle zu gehen. Oder den Tank im Auto wirklich fast leer zu fahren, anstatt schon bei halbem Füllstand zur Tankstelle zu fahren.

Füllen der Leerräume des Zwanges

Dies allein reicht jedoch nicht aus. Eine weitere wichtige Erkenntnis, die ich gewonnen habe, ist, dass der Zwang auch immer eine Rolle einnimmt – eine Funktion erfüllt. Er füllt etwas aus, das vorher leer war. Ich hatte sogar den Eindruck, dass er mir hilft – dass er versucht, ein inneres Bedürfnis von mir (nämlich das nach Kontrolle) zu erfüllen. Behandelt man den Zwang, hinterlässt er einen freien Raum, den es zu füllen gilt: Mit einem neuen Lebensprojekt, einem neuen Hobby, einer neuen Arbeitsstelle – jedenfalls mit etwas, das diese Leere füllt und die Zwangsthematik durch etwas Neues ersetzt.

Denn ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass der Zwang zurückkehren kann, wenn sich die Umstände ändern. Irgendwo tief im Inneren bleibt er verborgen, sitzt dort und wartet auf seine Gelegenheit – gewissermaßen auf seinen Einsatz. Dann ist es aber sehr beruhigend, wenn man ein ganzes Arsenal an Werkzeugen zur Verfügung hat, die man auffahren kann, sobald es soweit ist.

Hinweis der OCD Land-Redaktion

KI-Tools wie ChatGPT können hilfreich sein – aber sie sind auch ein zweischneidiges Schwert. Viele Betroffene nutzen ChatGPT, um sich Rückversicherungen zu holen: Sie stellen der KI wiederholt Fragen und erhalten beruhigende Antworten, die ihre Sorgen und Anspannung kurzfristig lindern. Rückversicherungen sind jedoch eine Zwangshandlung – und verstärken langfristig die Symptome einer Zwangsstörung.

Hinzu kommt: ChatGPT kann sogenannte „Halluzinationen“ erzeugen – also Aussagen machen, die sachlich falsch oder irreführend sind. Gerade für Menschen mit Zwangsstörung kann das zu zusätzlicher Verunsicherung führen.

Gleichzeitig gilt: KI-Tools können sinnvoll sein, wenn sie – wie in diesem Erfahrungsbericht – gezielt und reflektiert eingesetzt werden. Wir möchten daher nicht abraten, aber zu Vorsicht und einem achtsamen Umgang mahnen. KI ist kein gleichwertiger Ersatz für eine auf Zwangsstörungen spezialisierte Psychotherapie.

Florian, 33

Hinweis: Du willst deine Geschichte teilen? Schreibe uns eine E-Mail an oder eine Nachricht bei Instagram.