Warum die Diagnose Zwangsgedanken eine Erlösung für mich war

Von Andrea, 32 Jahre

Meine Geschichte mit meinem Kobold im Kopf begann schon im Kindesalter. Im Nachhinein sind mir viele Situationen aufgefallen, in denen ich schon als Kind Zwangsgedanken hatte. Ich hatte immer Angst, wenn ich nicht dreimal einatme, würde etwas Schlimmes passieren. Ich durfte beim Gehen auf Platten keine Fuge berühren, keine ekligen Dinge berühren oder manche Gegenstände nur auf eine bestimmte Weise.

Viele Kleinigkeiten, die nie wirklich jemandem aufgefallen sind. Ein sehr ausgeprägtes magisches Denken. Die offensichtlichen Zwangshandlungen sind aber mit der Zeit immer schwächer geworden.

Als ich Mitte 20 war, hatte ich plötzlich in einem Einkaufsladen eine Panikattacke. So nahm alles seinen Lauf. Die Panikattacken wurden immer schlimmer und immer häufiger. Meine Angst schien sich förmlich an mich zu klammern und endlos zu sein. Ich wusste, ich muss etwas tun, da ich nur noch ein Häufchen Elend war - ein Schatten meiner selbst.

Ich ging zum Arzt und mir wurden kurzerhand Antidepressiva verschrieben. Es würde dann schon wieder gehen, es sei nur eine Phase. Mir wurde von meinem Umfeld geraten, doch mal zu einer Naturheilärztin zu gehen. Die könne mir sicherlich helfen. Gesagt getan. Anfangs schien es mir etwas besser zu gehen, da die Medikamente halfen, meine Zwangsgedanken in Schach zu halten. Nach einem Jahr habe ich diese wieder abgesetzt.

Eine Zeit lang ging alles gut - bis zu diesem bestimmten Tag, der Rückfall, einschließlich Panikattacken und Ängsten. Mir ging es sehr schlecht und ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Also glaubte ich der Naturheilärztin auch ziemlich alles - leider. Ihre Therapie bestand darin, Negatives aus meiner Kindheit aufzuarbeiten. Dabei wurde mir immer wieder gesagt, meine Ängste und meine schlechten Gedanken wären ein Zeichen, eine Bedeutung, für irgendetwas, was nicht gut läuft in meinem Leben.

Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, was das für mich als Zwangserkrankte bedeutet hat. Ich bin schlussendlich etwa drei Jahre zu ihr gegangen. Ich hatte damals viele Zwangsgedanken in Bezug auf fast jedes Thema in meinem Leben. Das Schlimmste für mich jedoch waren die Zwangsgedanken, von einem Geist besessen zu sein und die schreckliche Angst in eine Psychiatrie eingewiesen zu werden und meinen Verstand zu verlieren. Vor allem ROCD war mein ständiger Begleiter. Meine Angst und meine Zwänge waren so schlimm, dass mir alles um mich herum nur noch surreal und komisch vorkam. In dieser Zeit war mein Grübelzwang so schlimm, dass ich mich kaum mehr auf etwas Normales konzentrieren konnte. Mich hat einfach alles getriggert. Filme, Musik, Gerüche, andere Leute, Bücher usw.

Inzwischen hatte ich angefangen zu einer Therapeutin zu gehen. Anfangs nur sporadisch. Aber mit der Zeit immer öfter. Gleichzeitig fiel mir das Buch von Ellen Mersdorf „Alles nur in meinem Kopf" in die Hände. Sie teilt in diesem Buch ihre Geschichte über ein Leben mit ROCD.

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Ich erkannte endlich was mit mir los war: Ich leide an Zwangsgedanken. Es war eine Erlösung für mich. Mein Leiden hatte einen Namen, ich war also nicht verrückt. Mir wurde klar, dass meine Zwangsgedanken und mein ständiger Grübelzwang diese Panikattacken und diese ständige Angst ausgelöst hatten. Noch heute kann ich etwas von diesem Gefühl der Erleichterung über diese Erkenntnis spüren. Es hat einen Namen und ich kann etwas dagegen tun.

Ich habe angefangen regelmässig zur Therapie zu gehen und nach einer Zeit konnte ich mich endlich von der Therapie mit der Naturheilärztin lösen. Erst im Nachhinein wurde mir bewusst, wie wichtig dieser Schritt für meine Heilung war. Ich begann Bücher zu lesen und mich über das Thema zu informieren. In meiner Therapie habe ich sehr viel Wertvolles im Umgang mit Zwangsgedanken erlernt und machte eigentlich ständig schon selbst eine Expositionstherapie, indem ich anfing meine Gedanken und Gefühle zu akzeptieren und nicht mehr zu verurteilen. Ich habe regelmässig Achtsamkeitsmeditationen gemacht.

Es war ein nicht ganz einfacher Weg zu dem, was heute ist. Aber es hat sich sehr gelohnt. Es hat sich gelohnt, zu lernen all die Gefühle auszuhalten. Es hat sich gelohnt, die Gedanken akzeptieren zu lernen. Ich möchte euch Mut machen. Es ist möglich ein absolut glückliches und zufriedenes Leben führen - auch in Begleitung von gelegentlichen Zwangsgedanken.

Ich kenne mich heute so gut mit dem Thema aus und habe so vieles gelernt, dass mein Kobold mir nicht mehr solche Streiche spielen kann. Ich lebe ein Leben mit nur noch wenigen Momenten oder Phasen, in denen sich der Zwang bemerkbar macht und ich lerne ständig dazu, um noch besser damit umzugehen. Heute würde ich sogar so weit gehen und sagen, dass der Zwang nicht nur Schlechtes mit sich gebracht hat.

Es geht nicht von heute auf morgen und es ist ein Prozess, der mich noch lange oder vielleicht immer begleiten wird. Es geht darum, diese Ungewissheit zu akzeptieren. Du kannst das auch schaffen. Du bist nicht verrückt oder ein schlechter Mensch - du hast nur Zwangsgedanken. Und vor allem: Du bist nicht allein.

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Andrea, 32 Jahre

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