Wie ich lernte, unmoralische Zwangsgedanken zu akzeptieren

Von Rick, 27 Jahre

Ich leide seit ich denken kann an aufdringlichen Gedanken - Zwangsgedanken. Leider weiß ich erst seit Mitte 2020, dass ich eine Zwangserkrankung habe bzw. das es so etwas überhaupt gibt. Die längste Zeit wusste ich nicht was los ist und ich dachte, es stimmt etwas nicht mit mir.

Im September 2019 gab es ein paar private Veränderungen in meinem Leben und der schlimmste „Schub" hat begonnen: „Ekelhafte" und „unmoralische" Gedanken, die mich täglich begleiteten. Von morgens bis abends hatte ich diese Gedanken, kurze Erleichterung bekam ich nur durch das Grübeln.

In dieser Zeit konnte ich mit wenigen Freunden und bestimmten Familienmitgliedern darüber reden. Wir thematisierten die Gedankenthemen und wir sind immer zu dem Schluss gekommen, dass sie nicht so schlimm sind und dass es so eigentlich nicht eintreten wird. Diese Gespräche erleichterten mich über eine gewisse Zeit. Am Anfang waren es noch ein paar Tage bis es sich irgendwann nur noch um Minuten handelte bis die Anspannung, das Gefühlschaos und die Gedanken wieder zurückkamen. Ein Nervenzusammenbruch jagte mich nach dem anderen. Kein Ausweg, niemand der mir zu 100% sagen konnte, dass ich mir keine Sorgen machen muss.

Irgendwann ging nichts mehr und ich machte mich endlich auf die Suche nach Hilfe.

Anfang 2020 bekam ich von einer Bekannten den Tipp, zu einer Familienberatung zu gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie von einer Zwangserkrankung gehört. Leider waren zwei Termine ohne Erfolg, der Therapeut konnte mir schlussendlich nicht helfen oder eine Diagnose stellen.

Mein zweiter Versuch war bei einem Psychologen, der auf Hypnotherapie spezialisiert ist. Meine Vorstellung: er setzt mich unter Hypnose und die Gedanken sind weg. Leider waren auch diese drei Termine ohne Erfolg. Im Nachhinein hatte dieser Mann überhaupt keine Ahnung, was ich hatte. Noch schlimmer: Ich hatte das Gefühl er hat mich überhaupt nicht ernst genommen.

Zwischenzeitlich war ich immer wieder bei meiner Hausärztin, die mir wirklich von Herzen geholfen hat. Aber auch sie wusste nicht so richtig, was los ist.

Eines Tages bin ich im Internet auf einen Beitrag gestoßen, in dem es um Zwagsgedanken ging. Als ich ihn gelesen habe, spürte ich eine unendliche Freude: Ich bin nicht alleine, ich bin kein schlimmer Mensch, anderen ergeht es auch so.

Schön und gut aber auch dieser Beitrag hat mich nicht geheilt.

Ab jetzt begann der größten Entwicklungschritt in meinem Leben. Ich las unzählige Artikel und Bücher, hörte Hörbücher und war in Kontakt mit anderen Betroffenen oder ehemaligen Betroffenen.

Aber selbst in dieser Zeit hatte ich nicht das Gefühl als wäre Land in Sicht. Es waren immer noch grausame Tage.

Ich war zu diesem Zeitpunkt schon sechs Jahre selbstständig und hatte täglich Kontakt zu Kunden. „Immer freundlich" ist die Devise. Aber wie soll das gehen mit diesem schlimmen Gedanken? Ich schauspielerte täglich. Die harte Arbeit durch meinen Beruf und das Unterdrücken meiner Gedanken, um durch den Tag zu kommen, war höchste Anstrengungen für meinen Körper. Irgendwann habe ich nur noch funktioniert und war total leer in mir.

Aber irgendwann ging es langsam bergauf. Als würde man versuchen, einen großen runden Stein den Berg hochzurollen.

Immer wieder hatte ich ein paar gute Wochen. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt aber nicht sagen, warum es sich gebessert hatte. Ich war einfach nur dankbar. Aber es hielt nicht lange an und der große Stein rollte mich wieder über den Haufen. 

Hoffnungslos ging es tagtäglich wieder so weiter. Ich wachte auf und die Gedanken warteten schon und freuten sich, dass ich über sie grübel.

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Doch ich gab nicht auf! Ich las weiter und hörte mir zum dritten mal ein Hörbuch an: „Tyrannen in meinem Kopf". Irgendwann war ich so erfahren mit dem ganzen Thema, dass ich bewusst die ersten Strategien anwenden konnte. Nach und nach begriff ich, was zu tun ist. Und siehe da ich hatte ein paar Tage meine Zwangsgedanken selbstständig akzeptiert und mein Grübeln abgeschaltet.

Meine Meinung: Wie bei vielen „Krankheiten" ist der erste Weg zur Besserung die Akzeptanz. Diese Akzeptanz kann aber nur behalten bleiben, wenn man auf der anderen Seite an paar Tipps und Tricks erlernt hat, die man anwenden kann.

Gebt euch allen Zeit. Wir sind keine schlechten Menschen und die Vorstellungen sind nicht schlimm, da wir ja nicht wollen, dass sie so eintreten. Akzeptiert nicht nur die Krankheit sondern auch Euch. Lernt euch kennen und lieben.

Ende 2020 war ich nochmal bei einer Psychotherapeutin. Eigentlich war ich schon auf dem richtigen Weg aber noch nicht so, wie ich mir das vorstellte. Ich erzählte ihr meine Gedanken und was ich schon wusste. Durch das Erzählen meines Wissens über Zwangsgedanken bestätigte ich mir, dass ich kurz vor dem Ziel war.

Ich kann bis heute nicht sagen, was der Hintergrund dieser Krankheit ist. Manchmal fühlt es sich etwas übernatürlich an. Mittlerweile weiß ich damit umzugehen. Auch mir kommen immer wieder „schlechte" Gedanken. Vielleicht nicht mehr so stark und intensiv - aber sie kommen. Es ist wie der Ratschlag der Eltern früher in der Schulzeit, wenn man geärgert wurde: Lass dich nicht ärgern und geh nicht drauf ein und in ein paar Tagen haben die anderen Mitschüler keine Lust mehr und lassen dich in Ruhe. Am Anfang werden es noch Tage sein. Aber irgendwann bist du Profi und erkennst einen Zwangsgedanken und gehst schon im Vorfeld nicht drauf ein.

Rick, 27 Jahre

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