Wie ich zufällig herausfand, dass ich unter Zwangsgedanken leide

Von Betül, 25 Jahre

Die Geburt eines Kindes! War es wirklich das, was ich mir gewünscht habe? Wir wollten ein Kind. Ich wurde im September letzten Jahres schwanger mit meiner Tochter. Davor hatte ich eine Fehlgeburt. Es war schlimm und ich konnte es nicht ertragen, schwangere Frauen zu sehen. Im Januar 2021 hat es dann mit den ersten Zwangsgedanken angefangen: "Das Kind soll in meinem Bauch sterben, ich will es nicht, hoffentlich stirbst du!"

Dieser Gedanke hat mir Panik und Angst verbreitet. Schließlich dachte ich, dass Gott mir mein Kind wegnehmen würde. Es ging weiter und weiter. Ich begriff nicht, was mit mir los war. Es kamen immer mehr Gedanken dazu. Die Gedankenstopp-Methode funktionierte nicht. Ich dachte, irgendwas ist falsch an mir. Kurz vor der Geburt hatte ich komische Gedanken als ich Filme angeschaut habe. Ich fantasierte, wie ich den Figuren im Film andere Klamotten anziehe oder fragte mich, wie ihr Leben wohl sei?

Dazu kam noch eine heftige Derealisation. Das machte mir noch mehr Angst. Einen Monat lang war ich schlaflos. Ich zitterte abends im Bett und kam nicht zum Schlaf. Als die Kleine auf der Welt war, wurden mir Wochenbettdepressionen diagnostiziert. Schon im Krankenhausaufenthalt fing es mit den fiesen Gedanken an. Ich stellte mir vor, wie ich mit meiner Tochter aus dem Fenster springe. Ich bin sofort zu meiner Psychologin gegangen. Sie meinte, ich hätte eine Depression. Sie empfahl mir auch die Gedankenstopp-Methode. Nein nein und nein - das funktionierte bei mir einfach nicht.

Dann habe ich angefangen, selbst herauszufinden, was mit mir los ist. Ich dachte: Ach du hast bestimmt nichts. Das sind ganz normale Konzentrationsprobleme, die nach der Geburt völlig normal sind. Bis an den Tag wo ich zusammengebrochen bin und diese gewalttätigen aggressiven Gedanken meiner Tochter gegenüber nicht aushalten konnte. Ich hatte Angst, mit ihr alleine zu bleiben - deshalb habe ich meine Mama zu mir gerufen. Sie war zwei Monate lang bei mir. Aber es wurde nicht besser - es wurde viel schlimmer.

Ich dachte, ich hätte Schizophrenie und wollte mich in die Psychiatrie einweisen lassen. Es war mir egal, ob ich meine Tochter nicht sehen kann, aber ich wollte wissen was mit mir los ist. Ich habe schließlich durch etliche Recherchen herausgefunden, dass es sich um Zwangsgedanken handelt. Jeder meinte, es würde nach meinem Wochenbett vorbeigehen, aber nein es wurde schlimmer und schlimmer.

Vor drei Wochen sind wir in den Urlaub gefahren. Da kam mir alles komisch vor. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob ich schon seit meiner Kindheit Zwangsgedanken habe. Als ich dann das Instagram-Profil von OCD Land entdeckte, wurde mir alles klar: Ich leide seit Jahren unter einer Zwangstörung. Ich bin mein komplettes Leben im Kopf durchgegangen. Ich war schockiert. Schockiert darüber, was aus meinem Leben geworden ist.

Es begann alles damit, dass ich ein Tier überfahren habe. Immer wenn ich am Autofahren war, kam mir der Gedanke: "Und was ist, wenn du jetzt jemanden umgefahren hast?" Ich stellte mir vor, wie die Polizei nach Hause kam und mich wegen Unfallflucht festnimmt. Das bereitete mir Angst und ich fuhr die Straße zweimal ab, um nachzuschauen, ob ich wirklich was gemacht habe.

Dann kamen religiöse Gedanken. Im Radio oder im TV bin ich manchmal auf Gottesdienste gestoßen. Ich dachte, wenn ich jetzt umschalte, dann werde ich von Gott bestraft. Und hörte die Programme zwanghaft bis zum Ende. Ich kann seit meiner Kindheit nicht ins Meer, weil ich immer gedacht habe, dass ein Hai kommt und mich attackiert. Deshalb habe ich das Meer immer vermieden, obwohl ich es liebe, zu schwimmen.

Und heute? Heute fing es bei mir an, dass ich zwanghaft meine Gedanken kontrolliere. Ich warte so lange bis ein Zwangsgedanke auftaucht. Oder ich kontrolliere mit meinen Augen die Umgebung, um zu gucken was gleich bei mir zwanghaft wird. Ich habe ständig unsinnige Gedanken, die ich kaum loslassen kann. Der Kellner bringt mir was zu trinken und ich frage mich, was er wohl gerade über mich denkt oder ob ich ihm viel Arbeit verursacht habe? Liebe ich meine Tochter überhaupt? Ich habe ab und zu mal noch sexuelle Zwangsgedanken gegenüber meiner Tochter und anderen Männern, wenn ich sie draußen sehe. Ich bin seit drei Monaten Mutter, aber ich war noch nie alleine mit meiner Tochter.

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Als ich dann auf OCD Land gestoßen bin, habe ich sofort gemerkt, dass ich eine weitere Zwangshandlung habe - und zwar meine Gedanken zu kontrollieren und warten bis ein neuer Zwangsgedanke kommt. Ich führe zwanghaft in mir Dialoge. Ich habe manchmal den Zwangsgedanken, dass die Nichten meines Mannes sterben sollen.

Es hat mich alles so fertig gemacht. Niemand konnte mir helfen, aber durch OCD Land bin ich Gott sei Dank etwas aufmerksamer geworden und ich weiß endlich, was ich habe.

Leider gibt es auch nicht viele Therapeuten, die sich damit auskennen. Ich will wirklich wieder gesund werden. Für meinen Mann und für meine Tochter, weil sie einfach nur mitleiden. Ich werde nicht aufgeben. Ich weiß wer ich bin und wer ich einmal war. Ich bin ein sehr gutherziger Mensch und das weiß ich. Ich wünsche niemandem etwas Böses und ich leide mit den Menschen mit - immer.

Mit meinen Zwangsgedanken dachte ich jedesmal, ich wäre ein gefährlicher und böser Mensch. Ich würde ins Gefängnis gehen und Schuldgefühle tragen, weil ich meine Familie umbringe. Diese Krankheit wünsche ich niemandem.

Heute weiß ich, dass ich keine Depression habe, sondern dass es sich bei mir um starke Zwangsgedanken handelt. Natürlich weiß ich nicht, ob es nicht doch mit einer Depression eine Verbindung hat. Ich weiß nur, dass es Tage gibt, da bin ich depressiv und möchte lieber im Bett sein.

Ich weiß es gibt so viele Menschen da draußen, die an Zwangsgedanken leiden. Und ich leide mit jedem da draußen - wirklich mit jedem. Ich finde, man sollte eine Selbsthilfegruppe für Betroffene machen, weil viele Menschen da draußen sich nicht trauen, von ihren Zwangsgedanken zu erzählen, weil sie Angst vor Ablehnung haben. Ich wünsche jedem, aber wirklich jedem, das Beste im Leben.

Ich möchte hier jedem Mut machen. Ihr seid keine schlechten Menschen. Im Gegenteil ihr seid gutherzige Menschen und jeder von uns verdient es, glücklich zu sein. Sucht euch Hilfe und nehmt eure Krankheit an. Liebt euch und akzeptiert eure aktuelle Lage. Es wird vorbeigehen. Vergesst nicht: Nach einem Regen kommt immer ein Sonnenschein. Ich wünsche euch allen das Beste. Bitte schreibt mich auf Instagram an, wenn ihr das Gefühl habt, ihr braucht jemanden der euch versteht, mit dem ihr euch austauschen könnt.

Redet über eure Gedanken. Versteckt euch nicht. Ihr seid nicht die einzigen. Denn das möchte ja der Zwang: Er möchte euch leiten und euch von schönen Dingen abhalten. Schaut eure alten Fotos an und glaubt an euch, dass ihr wieder so werdet wie früher.

Betül, 25 Jahre

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