Imaginative Expositionen: Intro zur Artikel-Reihe
Von Dr. Katharina Bey und Martin Niebuhr

Du hast vielleicht schon erste Erfahrungen mit Expositionen gemacht oder zumindest verstanden, warum sie bei Zwangsstörungen wirken. Wenn sich dein Zwang aber vor allem im Kopf abspielt oder du Befürchtungen hast, die abstrakt sind oder weit in der Zukunft liegen, stellt sich schnell die Frage: Was macht man, wenn klassische Expositionen scheinbar nicht passen? Genau hier kommt ein Werkzeug ins Spiel, das viele noch gar nicht kennen: imaginative Expositionen. In dieser Artikel-Reihe zeigen wir dir, was dahintersteckt – und wie du dieses scheinbar widersprüchliche, aber sehr effektive Vorgehen gezielt für dich nutzen kannst.
Expositionen mit Reaktionsmanagement sind die wirksamste Therapie zur Behandlung von Zwangsstörungen. Dabei konfrontierst du dich bewusst mit Situationen, die Zwangsgedanken und starke unangenehme Gefühle in dir auslösen, ohne aber deine üblichen Zwangshandlungen, Vermeidungen und Grübeleien auszuführen. Durch die wiederholte Übung setzt ein Gewöhnungseffekt und ein Umlernen ein: Die Anspannung lässt allmählich nach und deine Zwangsgedanken und Befürchtungen verlieren ihren Schrecken.
Für Betroffene mit sichtbaren Triggern und Zwangshandlungen ist schnell klar, wie das funktioniert: Jemand mit Waschzwängen würde beispielsweise eine Türklinke anfassen (Exposition) und sich anschließend nicht die Hände waschen (Reaktionsmanagement). Mit der Zeit reagiert das emotionale Gehirn weniger stark auf die Trigger und der Drang zu Zwangshandlungen lässt nach.
In vielen Fällen stößt diese Grundidee jedoch an ihre Grenzen. Dann kommen imaginative Expositionen ins Spiel.
Was sind imaginative Expositionen und wann werden sie eingesetzt?
Bei imaginativen Expositionen stellst du dir gedanklich vor, wie es wäre, wenn deine schlimmsten Gedanken und größten Befürchtungen eintreten würden. Dafür schreibst du eine kurze Geschichte über dieses befürchtete Szenario und liest sie anschließend immer wieder durch oder hörst sie dir an (ja, das hört sich erstmal absurd, kontraintuitiv oder sogar gefährlich an, aber gleich dazu mehr!).
Besonders geeignet sind imaginative Expositionen, wenn Expositionen in der Realität nicht oder nur bedingt möglich sind. Das sind unter anderem die folgenden Fälle:
- Bei vielen Betroffenen ist der Trigger der Gedanke selbst oder ein verstörendes einschießendes Bild. Wenn Trigger unsichtbar und alleine im Kopf sind, gibt es oft keine vergleichbaren Expositionen im realen Leben. Das gilt insbesondere für aggressive und sexuelle Zwangsgedanken. Mithilfe von imaginativen Expositionen kann man sich diesen Triggern gezielt stellen.
- Bei manchen Betroffenen sind die Befürchtungen sehr abstrakt („Leben wir in einer Simulation?“) oder liegen weit in der Zukunft („Werde ich an Krebs sterben?“).
- Trigger und Zwangsgedanken sind häufig lediglich „oberflächliche“ Stellvertreter einer dahinter liegenden Kernangst (bspw. Tod, sozialer Ausschluss oder immerwährendes Leid), die man im realen Leben nicht konfrontieren kann (und will). Bei der Durchführung von imaginativen Expositionen findet man zwangsläufig seine Kernangst (für viele ein echter Aha-Moment), die man anschließend mithilfe von imaginativen Expositionen bearbeiten kann.
- Viele Betroffene, die zwanghaft grübeln, sind sich nicht bewusst, dass ihr Grübeln eine Form der gedanklichen Vermeidung ist – eine Art Schutzmechanismus, der sie vor der Auseinandersetzung mit der dahinterliegenden Kernangst schützt. Imaginative Expositionen helfen, das zwanghafte Grübeln zu durchbrechen und sich dem Kern seiner Angst zu stellen.
- Für manche Betroffene ist eine Exposition mit realen Triggern eine zu große Herausforderung. Imaginative Expositionen können hier eine Möglichkeit sein, den Einstieg zu erleichtern.
Daraus wird klar: Für manche Betroffene sind imaginative Expositionen die effektivste (und manchmal sogar einzig mögliche) Form der Exposition. Generell können sie aber für alle Betroffenen eingesetzt werden. Im Laufe der Artikel-Reihe werden wir auf die sinnvollsten Anwendungsfälle ausführlich eingehen.
Imaginative Expositionen: Mythen & Fakten
Vielleicht spürst du beim Lesen dieser Artikel-Reihe schon ein leises Unbehagen. Das ist völlig normal! Viele Betroffene haben vor imaginativen Expositionen unter anderem die folgenden Befürchtungen:
- „Beschwöre ich damit nicht die befürchtete Katastrophe bewusst herauf?“
- „Können meine Gedanken dadurch Überhand nehmen oder unkontrollierbar werden?“
- „Stimme ich dadurch nicht den Inhalten meines Zwangs zu?“
- „Man sagt doch ‘Was man denkt, wird wahr’ (Gesetz der Anziehung, Manifestation etc.). Sind imaginative Expositionen daher nicht gefährlich?“
- „Werde ich dadurch nicht emotional überflutet? Ich könnte das nicht aushalten!“
- „Was ist, wenn dadurch meine Zwangsgedanken nur noch viel schlimmer werden?“
- Falls in Begleitung eines Therapeuten: „Mein Therapeut könnte mich für meine abscheulichen Gedanken verurteilen oder erkennen, dass ich gar nicht an einer Zwangsstörung leide, sondern wirklich gefährlich bin!“
All diese Befürchtungen sind erstmal völlig nachvollziehbar. Wir zeigen dir in dieser Artikel-Reihe aber, dass sie eine Täuschung des Zwangs und faktisch nicht haltbar sind. Wir erklären dir, wie genau diese Befürchtungen deine Zwangsstörung am Leben halten und wie du sie mithilfe von imaginativen Expositionen gezielt widerlegen kannst. Dadurch entziehst du dem Zwang seine Argumentationsgrundlage und nimmst ihm seinen Schrecken.
Das müssen wir allerdings zugeben: Sich seinen größten Ängsten mit imaginativen Expositionen zu stellen, ist erstmal eine große emotionale Herausforderung. Richtig durchgeführt, gelten sie jedoch nicht nur als langfristig sehr effektiv, sondern auch als sehr sicher.
Warum wir diese Artikel-Reihe geschrieben haben
Im deutschsprachigen Raum gibt es bisher kaum gut verständliche Informationen zu imaginativen Expositionen. Die wenigen verfügbaren Bücher und Manuale richten sich fast ausschließlich an Therapeuten. Und obwohl imaginative Expositionen unter spezialisierten Therapeuten als sehr effektiv gelten, werden sie in der Praxis erstaunlich selten eingesetzt. Dadurch wird Betroffenen oft ein zentraler Baustein der Therapie vorenthalten.
Ein weiterer Grund für diese Artikel-Reihe: Viele Betroffene haben entweder eine falsche Vorstellung von imaginativen Expositionen oder verspüren große Angst davor. Es kursieren in der Populär-Psychologie Vorstellungen wie „Was du denkst, wird wahr“ oder spirituelle Konzepte wie Manifestation und das Gesetz der Anziehung. Solche Ideen stehen aber im direkten Widerspruch zur wissenschaftlich basierten Behandlung von Zwangsstörungen und verunsichern viele zusätzlich.
Wir möchten in dieser Artikelreihe mit Mythen aufräumen, Vorbehalte abbauen, Klarheit schaffen und dir zeigen, dass imaginative Expositionen effektiv und sicher sind – wenn man sie richtig durchführt.
Das erwartet dich in dieser Artikel-Reihe
Konkret wirst du in dieser Artikel-Reihe Folgendes lernen:
- Was imaginativ Expositionen sind, wie sie wirken und was sie dir langfristig bringen
- Was die sinnvollsten Anwendungsfälle sind
- Welche Rolle sie innerhalb der Therapie spielen
- Mythen, Bedenken und Vorbehalte rund um imaginative Expositionen – und wieso sie nicht stimmen
- Wie du deine Kernangst (deine größte Befürchtung) findest
- Was genau ein Expositionsskript ist und wie du dein eigenes Expositionsskript erstellst (detaillierte Anleitung)
- Wie du imaginative Expositionen richtig durchführst
- Häufige Fallstricke bei der Durchführung von imaginativen Expositionen
- Wie oft und wie lange du imaginative Expositionen durchführen solltest (inkl. Beispiel-Expositionsplan)
- Warum es so effektiv ist, sich Expositionsskripte anzuhören und wie du bei der Erstellung deines eigenen Audio-Skripts konkret vorgehst
- Antworten auf häufig gestellte Fragen
- 15 Beispielskripte für verschiedene Subtypen der Zwangsstörung
Im nächsten Artikel „Imaginative Expositionen im Überblick“ (Gold-Mitgliedschaft erforderlich, erscheint am 20.12.2025) erfährst du mehr darüber, was die Rolle von imaginativen Expositionen innerhalb der Therapie ist und in welchen Fällen sie besonders sinnvoll sind.
Hinweise zur Artikel-Reihe:
- Diese Artikel-Reihe setzt grundlegendes Wissen darüber voraus, wie Zwangsstörungen funktionieren und mithilfe von Expositionen therapiert werden. Unsere Einführungs-Reihe auf dem Experten-Blog gibt einen Einblick dazu.
- Viele Betroffene haben keine sichtbaren Zwangshandlungen. Ihre Zwangshandlung ist das zwanghafte Grübeln. Wie es dir gelingt, das Grübeln zu stoppen, erfährst du nicht hier, sondern in unserer Artikel-Reihe zum zwanghaften Grübeln.
- Solltest du schwer depressiv, akut traumatisiert, suizidal oder wahnhaft sein, sind selbstständige imaginative Expositionen zum aktuellen Zeitpunkt nicht für dich geeignet. Wende dich in diesen Fällen bitte an eine Fachperson zur Unterstützung.
Über die Autoren
Dr. Katharina Bey ist Psychologische Psychotherapeutin und Leiterin der Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Bonn. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit forscht sie u. a. zu den genetischen Grundlagen der Zwangsstörung. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und des Fachbuchs Zwangsstörungen - Ein evidenzbasiertes Behandlungsmanual*.
Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.