Mein Weg aus der Zwangsstörung: Bericht einer Betroffenen

Von Dr. med. vet. Elke Atzpodien

Wanderweg, der durch einen Wald mit Blumen führt.

Mithilfe der kognitiven Verhaltenstherapie hat Elke Atzpodien gelernt, sich ihren Ängsten zu stellen und ein werteorientiertes, freies Leben zu führen. Was ihr geholfen hat und warum es für jeden Betroffenen allen Grund zur Hoffnung auf eine Besserung der Zwänge gibt, berichtet sie in diesem Artikel.

Dankbar und erleichtert blicke ich auf die letzten fünf Jahre zurück, die ich als „Chance meines Lebens" sehe. Ich erlaube mir auch, stolz auf mich zu sein, zuallererst deswegen, weil ich im Frühjahr 2016 völlig erschöpft, verwirrt und fast „ohnmächtig" den Rest an Hoffnung und Vertrauen in mir nutzte, um mein Leben in die Hand zu nehmen und den Mut aufbrachte, ein zweites Mal nach professioneller Hilfe zu fragen. Es war in letzter Minute, denn inzwischen putzte und duschte ich nach der Arbeit abends stundenlang bis weit in die frühen Morgenstunden. Mein bewundernswerter Mann war seit Jahren fest in die Rituale mit eingespannt, am Ende seiner Kräfte und deutete an, nicht mehr weiter „helfen" zu können.

Zehn Jahre nachdem ich mich 2006 zum ersten Mal hilfesuchend an eine psychiatrische Fachkraft gewandt und erfahren hatte, dass „ich eben so sei, etwas ängstlich und überarbeitet, soll doch ´mal eine Putzhilfe einstellen", erhielt ich 2016 erstmals eine Diagnose für mein unnötiges Leiden - und wirkungsvolle professionelle Hilfe.

Bis dahin hatte ich mich viele Jahre lang einsam geschämt, da ich Dinge machte, die sinnlos oder völlig übertrieben waren und hatte Schuldgefühle, weil ich mich entgegen meiner Werte verhielt. Mir war nämlich nicht bewusst, dass nicht ich das bin, sondern dass es eine heimtückische, psychische Erkrankung namens Zwangsstörung gibt, die meine qualvollen, aufdringlichen Gedanken und erschöpfenden, neutralisierenden Rituale erklärte. Bis Frühjahr 2016 kannte ich niemanden, der „mich wirklich verstand" oder „so etwas wie ich" hatte.

Aus eigener Erfahrung als ehemalig selbst von einer langjährigen, leidvollen und zunehmend lebenseinschränkenden Zwangserkrankung Betroffene und jetzige EX-IN (Peer)-Genesungsbegleiterin glaube ich fest daran, dass Besserung und Gesundung (Recovery), auch von schweren Zwangsstörungen, möglich sind.

Meine eigene Recovery-Reise

Meine Gesundung begann im Juni 2016 mit meiner anstrengenden, interessanten, kreativen und herrlich befreienden, 12-wöchigen Verhaltenstherapie mit Exposition und Reaktionsmanagement in einer psychotherapeutischen Tagesklinik. Seither bin ich in vertrauensvoller ambulanter Begleitung meines Verhaltenstherapeuten weiter neugierig und experimentierfreudig auf Recovery-Reise. Für letztere bin ich überaus dankbar und möchte sie nicht mehr missen, denn sie ermöglichte mir, viele wundervolle Menschen kennenzulernen, Unterstützung zu erhalten und werteorientierte, lehrreiche, überraschende und genussvolle Erfahrungen zu machen, die mir zuvor durch meine Zwangsstörung verwehrt waren. Ich habe viel über mich erfahren, meine Ressourcen entdeckt und eingesetzt, neue Kompetenzen erlernt und mich verändert. Ich bin nun eine andere, bin weicher, flexibler, nachsichtiger geworden, übe eine selbstmitfühlend-freundliche Haltung mit mir selbst - und diese „Elke in Recovery" gefällt mir.

Manchmal denke ich an mein nicht gelebtes Leben in der Zwangswelt zurück und mein Herz zieht sich sehnsüchtig zusammen. Dann spüre ich Trauer und Schmerz, wenn ich erinnere, dass ich meine süßen Kinder aus Angst vor Kontamination damals kaum herzlich umarmen „durfte". Umso schöner ist es, dass mein Mann, unsere inzwischen erwachsenen Kinder und ich nun wieder ein buntes, selbstbestimmtes, werteorientiertes und sinnerfülltes Leben führen - mit allem, was gerade ist.

Plötzlich mit der Diagnose der eigenen schambehafteten, psychischen Erkrankung konfrontiert und durch Unkenntnis jahrelang dadurch gequält worden zu sein, weckte in mir den Wunsch, in der Öffentlichkeit aufklärend und entstigmatisierend tätig zu werden. Schon vor meiner ersten Expositionsübung in der Tagesklinik beschloss ich hoffnungsvoll, einmal „etwas Schönes" aus der Erfahrung mit meiner psychischen Erschütterung, Therapie und Recovery machen zu wollen. Ich suchte nach Rollenmodellen, die „so etwas wie ich" gehabt und „es geschafft" hatten. Ich sehnte mich nach lebenden Beweisen dafür, dass es einen Weg aus dem Zwang gibt. Zufällig las ich in Willi Eckers Buch “Die Krankheit des Zweifelns“* von Herrn S. und in dem persönlichen Bericht von Ulrike S. “Der Weg aus der Zwangserkrankung“* von diesen beiden ehemals Zwangsbetroffenen, die es geschafft hatten und zwangs- bzw. symptomfrei wurden.

Wie Recovery bei einer Zwangsstörung aussehen könnte, konnte ich mir zu Beginn meiner Therapie noch nicht vorstellen und so schürte der Begriff „zwangsfrei" in mir auch keine unrealistische Erwartungshaltung, sondern große Hoffnung. Faszinierend fand ich, dass Ulrike S. nach ihrer eigenen Therapie zusammen mit ihrem Therapeuten als „Kotherapeutin" anderen zwangsbetroffenen Menschen half.

Meine Mission: Betroffenen Hoffnung geben und Erfahrungen teilen

Später erfuhr ich von der EX-IN (Peer)-Weiterbildung zur Qualifizierung als Genesungsbegleiterin in der Psychiatrie und vom Training zur Gruppenleiterin des Peer-geleiteten Programms „In Würde zu sich stehen (IWS)" zur Stigma-Bewältigung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die ich dann beide absolvierte. Nun erfülle ich mir meinen Herzenswunsch, denn seit 2019 bin ich im wunderbaren Behandlungsteam der stationären Verhaltenstherapie an der UPK in Basel als Peer-Mitarbeiterin tätig. Anderen einmal so helfen zu können, gab meinem sich in Therapie und Recovery sehr verändernden Leben einen neuen Sinn, für den es sich lohnt, die Expositionsübungen zu machen und nicht auf­zugeben.

Wie ich meine Therapie erlebt habe und was mir selbst bis heute geholfen hat, „dranzubleiben und nicht lockerzulassen", lege ich nun als Peer gerne offen. Denn mir hat es sehr geholfen, von anderen zu hören „Sie waren zuvor auch da, haben sich dann auf die harte Arbeit eingelassen und nun geht es ihnen so viel besser". Damals spürte ich hoffnungsvoll: „Wenn sie es geschafft haben, dann kann ich das auch!".

In meinen Artikeln möchte ich nun euch Hoffnung geben und meine eige­nen Erfahrungen teilen, welche genesungsförderlichen Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen die Therapie und Recovery von Zwangsstörungen unterstützen sowie Ideen zur Stabilisierung, Rückfall­prophylaxe und Stärkung der psychischen Flexibilität vermitteln. Eine solide Psychoedukation über Zwangsstörungen zu haben, war und ist sehr hilfreich für mich. Ich finde es faszinierend, mit welchen Tricks und Spielchen der Zwang so daherkommt und seine Dienste anbietet. Kann er ja! Aber ich weiß inzwischen, dass ich eine Wahl habe, diese Dienste nicht anzunehmen.

Teile dieses Blog-Beitrags wurden zuvor erstmals im „Newsletter" 01-20 der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen (SGZ) publiziert.

Über die Autoren
Dr. med. vet. Elke Atzpodien

Elke Atzpodien ist Wissenschaftlerin in Basel und seit 2019 auch EX-IN (Peer)-Genesungsbegleiterin im Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie, Abteilung Verhaltenstherapie-stationär, Universitäre Psychiatrische Kliniken (UPK) Basel. Bis zum Beginn ihrer Verhaltenstherapie im Sommer 2016 war sie selbst von einer langjährigen Zwangserkrankung betroffen. Als Peer an den UPK begleitet sie nun vor allem Menschen mit einer Zwangsstörung während deren Aufenthalts in der Klinik. Elke ist Moderatorin im Community-Forum, war zu Gast im Zwanglos-Podcast und ist außerdem Autorin auf dem OCD Land-Blog sowie im Buch Praxishandbuch Zwangsstörung*.