Ordnungszwang: Ein Ratgeber für Betroffene

Von Martin Niebuhr und PD Dr. Susanne Fricke


Lösen Unordnung, Asymmetrien oder Dysbalancen große Anspannung in dir aus? Bist du stundenlang damit beschäftigt, Ordnung und Balance herzustellen? Falls das auf dich zutrifft, könntest du unter einem Ordnungszwang leiden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Verfahren gelten Ordnungszwänge heutzutage als sehr gut therapierbar.

Ordentlichkeit ist eine Tugend - aber was ist, wenn Ordentlichkeit aus dem Ruder gerät? Bist du von einem Ordnungszwang betroffen, verbringst du einen zu großen Teil deines Tages damit, Gegenstände auszurichten oder in die für dich als richtig empfundene Ordnung zu bringen.

Was Außenstehende vielleicht lapidar als Ordnungsfimmel abtun, beschreibt nicht annähernd dein inneres Leid: Wahrscheinlich kannst du es schwer beschreiben, aber du kannst es einfach nicht ertragen, wenn Dinge nicht so ausgerichtet oder angeordnet sind, wie du dir das vorstellst. Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Zwanghaft versuchst du, Ordnung herzustellen, um das nagende Gefühl der Anspannung oder auch ein schlechtes Gewissen aufzulösen.

Viele Menschen mit Ordnungszwängen sind schon immer ordentlich gewesen. Sie fühlen sich am wohlsten, wenn alles schön ordentlich ist. Wenn du unter Ordnungszwängen leidest, wirst du aber irgendwann bemerkt haben, dass der Zeitaufwand für die Herstellung von Ordnung ein Ausmaß erreicht hat, bei dem du denkst: Das kann so nicht weitergehen. So richtig verstehst du auch selbst nicht, warum du Unordnung nicht ertragen kannst. Es ist, als würdest du bei vollem Verstand verrückt werden. Willkommen in der Welt der Zwangserkrankungen, der vierthäufigsten psychischen Erkrankungen.

Ordnungszwänge sind ein Subtyp der Zwangsstörung, bei dem sich Betroffene wiederholt dazu gedrängt fühlen, Gegenstände in die für sie richtige Ordnung, Symmetrie oder Balance zu bringen. Dieser Artikel soll dir helfen zu verstehen, was Ordnungszwänge genau sind, warum es dir bis jetzt so schwerfiel, weniger Wert auf Ordnung zu legen und welche wissenschaftlich fundierten Strategien dir nachhaltig helfen können.

Symptome von Ordnungszwängen

Alle Formen der Zwangserkrankungen weisen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen auf. Zwangsgedanken sind aufdringliche Gedanken, Gefühle, Impulse und Zweifel, die eine ständige Anspannung verursachen. Zwangshandlungen sind wiederholte physische Handlungen, Grübeleien und Vermeidungen, die das Ziel haben, die Zwangsgedanken und Anspannung aufzulösen.

Beispiele für Auslöser bei Ordnungszwängen

Ordnungszwänge drehen sich meist um Ordnung, Symmetrie, Balance und Perfektion. Typische Beispiele für Auslöser bei Ordnungszwängen sind:

  • Eine unangenehme Anspannung, wenn Bücher im Regal unordentlich sortiert sind (bspw. nicht nach Farben oder Größe)
  • Das Gefühl, Kleidung ist nicht ordentlich genug zusammengelegt
  • Eine Anspannung, wenn links auf der Fensterbank ein Blumentopf steht, aber rechts nicht
  • Die Angst davor, dass dein Zuhause nicht in perfekter Ordnung ist
  • Ein Unwohlsein, wenn Dinge nicht perfekt ausgerichtet sind (z.B. nicht parallel nebeneinander liegen)
  • Die Befürchtung, es geschieht ein Unglück, wenn sich nicht eine gerade Anzahl an Tellern auf dem Tisch befinden
  • Die Angst, dass ein Besucher oder Familienmitglied deine Ordnung durcheinanderbringt
  • Das Gefühl, die eigene äußere Erscheinung wäre unordentlich oder asymmetrisch (bspw. Haare, Makeup, Kleidung)
  • Aufdringliche Gedanken, dass die Kleidung nicht richtig sitzt
  • Der Drang, Buchstaben in Wörtern oder Sätzen gedanklich anzuordnen
  • Die Furcht davor, neue Dinge anzuschaffen - aus Angst, sie könnten nicht perfekt sein oder die Ordnung im Haushalt stören
  • Der Drang, in Geschriebenem die Buchstaben nachzubessern, weil sie als nicht ordentlich geschrieben empfunden werden

Typische Befürchtungen hinter Ordnungszwängen

Außenstehenden mögen deine Ordnungszwänge zwar unsinnig erscheinen - sie wissen allerdings auch nicht, unter welcher Anspannung du ständig stehst. Üblicherweise kann deine Anspannung mit einem der folgenden Punkte erklärt werden:

1. Unordnung fühlt sich einfach nicht richtig an (Unvollständigkeitserleben)
Unordnung löst bei dir eine hohe Anspannung aus. Es fühlt sich für dich einfach nicht ganz richtig an, wenn Unordnung herrscht. Du hast ständig das nagende Gefühl, als wäre noch etwas zu tun. Tust du es nicht, dann hast du ein extrem schlechtes Gewissen.

Ist der Zustand der Ordnung einmal erreicht, stellt sich bei dir kurz ein Zustand der Erleichterung oder sogar eine Art Glücksgefühl ein: Endlich fühlt es sich richtig an! Endlich ist alles so, wie es sein soll! Aber was ist, wenn jemand anders diese Ordnung wieder zerstört? Dann drohen wieder Anspannung und schlechtes Gewissen. Die größte Befürchtung ist, dass dieser belastende Zustand niemals aufhört, wenn du die Ordnung nicht wieder herstellst, dass die Unordnung völlig aus dem Ruder gerät und alles im Chaos versinkt. Daher tust du alles, um das zu verhindern.

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2. Magische Befürchtungen
Befürchtest du, dass jemand zu Schaden kommt, wenn du Dinge nicht richtig anordnest? Hast du vielleicht Angst, dass jemand in einen Autounfall verwickelt ist, wenn du deine Kleidung nicht richtig sortierst?

In diesem Fall spricht man von magischen Befürchtungen, die du versuchst, mit Zwangshandlungen um jeden Preis zu verhindern. Auch wenn es dir noch so unsinnig erscheint, bringst du die Dinge lieber doch noch schnell in die richtige Ordnung, bevor du Schuld an einer großen Katastrophe trägst. Und wer weiß - vielleicht hast du damit auch schon einige handfeste Katastrophen verhindert. Niemand kann dir das Gegenteil beweisen. Und das bringt dich um den Verstand.

3. Andere könnten dich verurteilen
Möchtest du um jeden Preis verhindert, dass jemand einen herablassenden Kommentar über deine Unordnung macht? Dann tust du alles, um eine solche Ablehnung zu verhindern. Auch wenn du weißt, dass deine Wohnung eigentlich ordentlich und sauber ist, gehst du doch nochmal lieber auf Nummer Sicher und spürst auch die letzten Staubkörner auf.

Beispiele für Zwangshandlungen bei Ordnungszwängen

Mit Zwangshandlungen versuchst du, deine Befürchtungen um jeden Preis zu verhindern und deine Anspannung loszuwerden. Zwangshandlungen gaukeln dir zwar vor, deine Befürchtungen kontrollieren zu können, tun es in Wahrheit aber nur bedingt (wenn überhaupt). Langfristig führen sie dazu, dass du im Zwang gefangen bleibst. Typische Zwangshandlungen bei Ordnungszwängen sind:

  • Gegenstände in einer bestimmten Reihenfolge oder symmetrisch anordnen (bspw. Kleidung, Bücher)
  • Gegenstände anordnen, um eine Balance zu erzielen (bspw. links und rechts)
  • Gegenstände anordnen, damit es sich richtig anfühlt
  • Nur eine gerade (oder ungerade) Anzahl an Dingen auf die Fensterbank stellen
  • Neue Gegenstände nur in perfektem und unbenutztem Zustand kaufen und ggf. zurückgeben
  • Dein Zuhause und Gegenstände in perfekter Ordnung und Sauberkeit halten
  • Gegenstände nicht benutzen, wenn sie perfekt angeordnet wurden
  • Die eigene äußere Erscheinung perfekt oder symmetrisch herrichten (Haare, Nägel, Kleidung, Makeup)
  • Dinge in perfekt gleichmäßigen Abständen platzieren
  • Buchstaben und Zahlen auf eine gewisse Art und Weise gedanklich anordnen
  • Allein wohnen, damit in deinem Zuhause niemand deine Ordnung durcheinanderbringt
  • Vermeiden von Orten und Dingen, die unordentlich sind und Anspannung auslösen
  • Das Schreiben eines Briefes wieder von vorne beginnen, sobald ein Fehler passiert und der Brief nicht mehr perfekt ist

Therapie bei Ordnungszwängen

Die Therapie der ersten Wahl für alle Subtypen der Zwangsstörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie einschließlich Expositionen und Reaktionsmanagement.

Bei dieser effektiven Form der Psychotherapie lernst du, dich Schritt für Schritt angstauslösenden Situationen und Gedanken zu stellen (Exposition) ohne zu versuchen, die ausgelöste Anspannung mithilfe von problematischen Bewältigungsstrategien wie Zwangshandlungen, Vermeidungen oder Rückversicherungen zu verringern (Reaktionsmanagement).

Mithilfe solcher Expositionen machst du die Erfahrung, dass du zwangsauslösende Situationen und Gedanken aushalten kannst und deine Anspannung sogar nachlässt, wenn du nichts dagegen unternimmst. Dadurch, dass du dir Schritt für Schritt beibringst, auf deine Anspannung auf eine neue Art zu reagieren, geht deine Zwangssymptomatik zurück und die Anspannung lässt langfristig nach.

Auch wenn die Therapie mit Expositionen als anstrengend gilt, so ist sie für Betroffene doch sehr lohnend: Zwangsstörungen zählen heute zu den psychischen Störungen mit den besten Therapieaussichten.

Ordnungszwänge: Einen neuen Umgang lernen

In der Therapie von Ordnungszwängen geht es darum, wieder ein besseres „Preis-Leistungs-Verhältnis" zwischen Ordnung und Zeitaufwand zu erhalten. Wo kannst du Abstriche in deiner Ordnung machen und dafür wieder mehr Zeit für anderes gewinnen? Wo möchtest du Ordnung behalten? Es geht also nicht darum, mit totaler Unordnung oder Chaos zurecht zu kommen, sondern die Ansprüche zu reduzieren.

Beispiele:

  • Du möchtest nicht darauf verzichten, dein Bett zu machen? Das ist okay, aber du kannst einmal kurz den Bettbezug glattstreichen, statt eine halbe Stunde die Falten wegzustreichen.
  • Du hast es gern übersichtlich auf deinem Schreibtisch? Das ist okay. Du kannst die Stifte auf dem Schreibtisch ungefähr parallel anordnen, aber nicht mit dem Lineal 10 Minuten ausmessen, ob sie ganz exakt parallel nebeneinander liegen.

Bevor du Expositionsübungen bei Ordnungszwängen durchführst, solltest du dir also zuerst überlegen, wo du Ordnung als sinnvoll empfindest und nicht darauf verzichten möchtest und wo du Abstriche machen möchtest. Beachte dabei aber: Wenn du wieder mehr Zeit für andere Dinge haben möchtest, wirst du nicht drumherum kommen, deine Ordnungsansprüche deutlich zu reduzieren.

Wenn du mit anderen zusammenlebst, die ebenfalls unter deinen Ordnungszwängen leiden, so ist es gut, wenn du deren Bedürfnisse in deine Übungsplanung mit einbeziehst.

Beim Aufbau von Expositionsübungen für Ordnungszwänge geht es dann darum, diesen neuen Zustand auszuhalten, wenn sich für dich alles nicht richtig, unordentlich und asymmetrisch anfühlt (Exposition) und du nicht versuchst, die relative Unordnung und die damit verbundene Anspannung mit Zwangshandlungen aufzulösen (Reaktionsverhinderung).

Beispiel: Du akzeptierst, dass das Bett zwar ordentlich gemacht ist, aber noch einzelne Fältchen sichtbar sind. Dafür hast du Zeit gewonnen, die du für anderes sinnvoller nutzen kannst.

Auf den ersten Blick kommt dir das Konzept der Expositionen vielleicht unsinnig vor - schließlich hast du doch in der Vergangenheit immer genau das Gegenteil gemacht. Und außerdem: Ist Ordnung nicht etwas Erstrebenswertes?

Lass uns diese Argumente im Detail diskutieren. Ja, in der Vergangenheit hast du alles dafür gegeben, um Ordnung herzustellen und deine Anspannung loszuwerden. Aber wie erfolgreich warst du damit? Ist deine Anspannung nun weg und lebst du dein Leben, wie du es dir wünschst? Was sagt deine Familie dazu? Fühlt sie sich von deinem Ordnungszwang gestört?

Wenn dich dein Zwang nicht stören würde, würdest du diesen Artikel nicht lesen. Und vermutlich ist dir nur zu bewusst, dass du den Forderungen deines Zwangs niemals genügen wirst: Es wird immer etwas geben wird, das man noch besser und ordentlicher machen kann. Selbst wenn du irgendwann doch mal den magischen Moment der Ruhe und Vollkommenheit nach vielen Stunden der Zwangshandlungen erreichst, weißt du genau, dass dich dein Zwang schnell und gerne an ein weiteres To-Do erinnert. Dein bisheriges Vorgehen im Umgang mit dem Zwang war nicht erfolgreich. Und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass sich das in Zukunft ändert.

Aber ist Ordnung nicht etwas Erstrebenswertes? Ein gewisses Maß an Ordentlichkeit ist etwas, das in unserer Gesellschaft wertgeschätzt wird und sinnvoll ist. Ein Ordnungszwang wird allerdings dann zum Problem, wenn er dich oder deine Mitmenschen im Alltag einschränkt oder stört. Hast du das Gefühl, dass dich dein Ordnungszwang einschränkt? Falls nein, was würden deine Mitmenschen sagen - fühlen sie sich von dir genenervt und eingeschränkt? Dein Ordnungszwang könnte dein Leben mehr kontrollieren als du denkst. Versuche ehrlich mit dir zu sein: Ist deine Vorstellung von Ordentlichkeit wirklich erstrebenswert in Anbetracht der Einschränkungen und des Leids, das sie für dich und andere verursacht?

Wenn du offen dafür bist, etwas in deinem Leben zu ändern und einen neuen und langfristig gesünderen Umgang mit deinem Ordnungszwang zu erlernen, können dir Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie sehr dabei helfen. Mithilfe anstrengender aber lohnenswerter Expositionen befreist du dich Schritt für Schritt aus den Klauen des Zwangs und findest in ein freies, selbstbestimmtes Leben zurück.

Beispiele für Expositionen bei Ordnungszwängen

Genauso wie sich Zwangsgedanken und Zwangshandlungen von Person zu Person unterscheiden, müssen auch Expositionen individuell angepasst werden. Hier findest du einige Inspirationen, die als Expositionen bei Ordnungszwängen eingesetzt werden können:

  • Einen Mantel aus dem Schrank nehmen und es aushalten, dass die anderen Mäntel im Schrank nicht ganz gerade hängen
  • Wenn nach dem Essen ein paar Krümel auf dem Boden liegen, diese nicht sofort wegsaugen
  • Staubsaugen und akzeptieren, dass noch ein paar Fussel auf dem Teppich liegen
  • Dinge unordentlich oder asymmetrisch anordnen und stehen lassen (bspw. eine Tasse auf dem Küchentisch)
  • Dem Drang widerstehen, unordentliche Dinge aufzuräumen, korrekt zu balancieren oder an ihre korrekte Position zu bringen (z.B. Sofakissen schief liegen lassen)
  • Etwas so anordnen, dass es sich nicht richtig anfühlt (z.B. die Zahnbürste anders als sonst auf die Ablage legen)
  • Bilder etwas schief aufhängen
  • Fehler, die dir beim Schreiben passieren, stehenlassen oder unsauber durchstreichen
  • Ordnungsrituale nicht durchführen, mit denen du sonst versuchen würdest, eine Befürchtung zu verhindern (bspw., dass deine Mutter stirbt)
  • Dir vorstellen, eine Befürchtung, die du versuchst, mit Ordnungszwängen zu verhindern, geht in Erfüllung
  • Dir vorstellen, deine Anspannung hört niemals auf oder wird so intensiv, dass du durchdrehst

Hilfe bei Ordnungszwängen

Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden:

Weitere Informationen rund um das Thema Zwangsstörungen und wie du sie überwindest findest du auch im Buch Zwangsstörungen verstehen und bewältigen* von Susanne Fricke, der Co-Autorin dieses Blog-Artikels.

Wenn du dich mit deinem Ordnungszwang überfordert fühlst und Selbsthilfe nicht mehr ausreicht, möchten wir dir außerdem dringend empfehlen, einen auf Zwangsstörungen spezialisierten Psychotherapeuten aufzusuchen. Da es nicht leicht ist, einen solchen Spezialisten zu finden, geben wir dir in diesem Artikel konkrete Tipps.

Über die Autoren
Martin Niebuhr

Martin hat OCD Land gegründet, damit sich Betroffene einer Zwangsstörung endlich auch im Internet über effektive und wissenschaftlich fundierte Behandlungsverfahren informieren und auszutauschen können. Er ist Entwickler der OCD Land-Webseite, Host des Zwanglos-Podcasts, Autor auf dem OCD Land-Blog und Moderator im Community-Forum.

PD Dr. Susanne Fricke

PD Dr. Susanne Fricke ist psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis und in der Aus- und Weiterbildung als Dozentin und Supervisorin tätig. Vor ihrer Niederlassung hat sie als leitende Psychologin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf gearbeitet (Schwerpunkt: Angst- und Zwangsstörungen). Sie ist Autorin und Mitautorin vieler Fach- und Selbsthilfebücher, z.B. Zwangsstörungen verstehen und bewältigen*.