Zwangserkrankungen und Tabuthemen im Journalismus (Teil 3)

Von Alicia Schweizer und Burkhard Ciupka-Schön

Alte Schreibmaschine auf einem hölzernen Tisch.

Verantwortung von Journalist:innen

Wie groß ist die Verantwortung von Journalist:innen Ihrer Meinung nach, Betroffenen eine Bühne zu geben?

Ciupka-Schön: Ich hätte mir damals wie heute gewünscht, dass ein bisschen mehr Aufwand betrieben wird, nicht nur die gut darstellbaren Zwänge zu repräsentieren. Ich denke, es ist immer einer Frage der Fantasie und man braucht ein weniger mehr Zeit und Idee, um auch das Abstrakte, was Zwänge im Kern ausmacht, darzustellen. Dann ist es zum anderen wichtig, Minderheiten respektvoll darzustellen. Auch habe ich schon Einladungen zu Showformaten bekommen, wo das Leid von Betroffenen rein voyeuristisch konsumiert wurde. Ich kenne aber auch Beispiele, in denen man sehr verantwortungsvoll und respektvoll mit der Darstellung von Betroffenen umgegangen ist.

"Ich will nicht ganz ausschließen, dass wir in einer Welt leben, wo es auch geringschätzende und abwertende Menschen gibt, aber ich finde nicht, dass man denen das Feld überlassen sollte."

Das passt auch gut zu meiner Frage, welche Gefahren es denn gibt, wenn man sich als Betroffene:r nach außen wendet. Was sind vielleicht auch Befürchtungen der Personen, was alles passieren könnte?

Ciupka-Schön: Ich war insgesamt glaube ich in 11 Talkshows, in die ich auch immer Betroffene mitgebracht habe. Ich habe so gut wie nie mitbekommen, dass hinterher negative Konsequenzen für die Betroffenen daraus erwachsen sind. Das ist sicherlich auch nicht allen Leuten möglich und hängt sehr davon ab, in welcher Umgebung sie leben. Von daher muss jeder Betroffene selbst entscheiden, ob das in der jeweiligen Position und gesellschaftlichen Rolle machbar ist.

Aber ich glaube im Großen und Ganzen ist es eine Sache, die zur Zwangsstörung gehört. Nämlich, dass man die soziale Ächtung für größer hält als sie ist. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass, wenn die Angst vor der sozialen Ächtung durchbrochen wurde, die Leute durchaus freier gelebt haben. Wenn das Phänomen ihrer Zwangsstörung eine große öffentliche Aufmerksamkeit bekommen hat, hat es den Betroffenen selbst sehr gutgetan. Klar, ich will ich nicht ganz ausschließen, dass wir in einer Welt leben, wo es auch geringschätzende und abwertende Menschen gibt, aber ich finde nicht, dass man denen das Feld überlassen sollte.

"Es ist für Betroffene wichtig, frühzeitig den richtigen Weg zu finden. Dafür ist Journalismus sehr wichtig"

Wie können Journalist:innen und Therapeut:innen denn besser zusammenarbeiten? Wie können sie Themen, über die man sonst nicht spricht, in die Öffentlichkeit bringen?

Ciupka-Schön: Da kenne ich natürliche die Seite meiner Kollegen besser. Ich werde häufig ein wenig belächelt: „Naja der Burkhard ist da ein bisschen narzisstisch, der muss immer in die Medien gehen“. Ich gebe auch zu, das macht Spaß, aber ich glaube, dass obendrauf viel Zweck dahintersteckt. Ich glaube, es ist für Betroffene wichtig, frühzeitig den richtigen Weg zu finden. Dafür ist Journalismus sehr wichtig. Therapeuten haben eine Neigung zum Diskreten und zum Verborgenen und ich glaube, das teilen sie mit vielen Betroffenen. Ich glaube aber, dass das nicht unbedingt der seelischen Gesundheit förderlich ist.

Da wäre es dann auch wichtig, dass Therapeut:innen gegenüber Journalist:innen offener werden? Und dass die journalistische Seite gleichermaßen auf Expert:innen aus der Psychologie zugeht?

Ciupka-Schön: Ja, ich denke, es geht auch in beiden Berufen um Kommunikation und das Interesse am Menschen. Von daher gibt es eigentlich zwischen Journalismus und Psychologen eine große Schnittmenge und Übereinstimmung in den Themen. Wenn es nicht gerade die Klatschpresse ist, hat man auch einen Ehrenkodex, das Gute im Menschen zu unterstützen. Auch da sehe ich durchaus eine Schnittmenge. Ich habe mich in meiner journalistischen Rolle bei der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen immer sehr wohlgefühlt. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich nur ein einziges meiner beruflichen Ideale verraten hätte. Im Gegenteil.

"Es geht uns alle nichts mehr an als das geistige Befinden."

Vielleicht überträgt sich das auch unbewusst auf Medienschaffende. Also dass man Therapie und psychische Erkrankungen immer als etwas Privates ansieht, worüber sich keiner äußern möchte. Vielleicht sind viele Themen deshalb auch unterrepräsentiert?

Ciupka-Schön: Ich denke, es geht uns alle nichts mehr an als das geistige Befinden. Wenn ich als Beispiel einen amerikanischen Präsidenten nehme, der auf Deutsch gesagt verrückt ist, dann kann das den Untergang der Welt bedeuten. Dass so jemand ein Amt ohne Gesundheitscheck annehmen kann, ist immer noch ein Rätsel für mich.

"Wenn wir sagen „Ne, das ist uns nicht gut genug“, dann berichten die trotzdem über dieses Thema"

Wie kann man Menschen abseits der „Mental-Health-Bubble“ erreichen? Also Menschen, die bisher keine Berührungspunkte mit solchen Themen hatten?

Ciupka-Schön: Ich weiß aus meiner bisherigen Erfahrung, dass wir uns damals nicht zu fein für Talkshows waren. Das war bei uns im Vorstand durchaus umstritten. Man wollte sich eher auf die seriöse und wissenschaftliche Berichterstattung konzentrieren. Der Besuch von Talkshows und anderen Unterhaltungsformaten wurde eher mit spitzen Fingern angefasst. Ich habe damals aber, denke ich, ein ganz großes Publikum erreichen können. Wir haben immer gemerkt: Die großen Waschkörbe voller Post von Ratsuchenden, von Betroffenen, die schon eine therapeutische Odyssee hinter sich hatten und für die endlich deutlich wurde, was sie eigentlich haben und was für sie die nächsten Schritte einer zielführenden Behandlung sein könnten, kamen durch solche Massenmedien.

Früher waren es Talkshows, heute sind es Podcasts und YouTube-Videos, die von großen Massen der Menschen konsumiert werden. Wenn wir uns als Therapeuten mit solchen Medien auseinandersetzen, dann haben wir auch einen Einfluss darauf. Wenn wir sagen „Ne, das ist uns nicht gut genug“, dann berichten die trotzdem über dieses Thema, aber auf eine Art und Weise, die der Sache überhaupt nicht dienlich ist.

Psychische Erkrankungen normalisieren - eine Gratwanderung

Innerhalb der Psychologie wird manchmal auch darüber diskutiert, wie über psychische Erkrankungen berichtet werden soll. Die einen sind der Ansicht, es werde zu wenig über schwere Krankheitsverläufe oder „Extrem-Beispiele“ gesprochen. Es gibt zum Beispiel ein Interview mit dem Psychotherapeuten Manfred Lütz, der sagt, wir würden mehr über die Psychologie der Bäume als über Schizophrenie sprechen. Andere finden, es sei wichtig, nicht zu viele Beispiele in der Berichterstattung herauszupicken, die für Sensation bei Leser:innen sorgen, um so mehr Identifikationspotential zu schaffen. Wie sehen Sie das?

Ciupka-Schön: Ich würde da kein Entweder-Oder draus machen. Der Kollege Manfred Lütz hat sicher recht. Er ist ärztlicher Direktor eines psychiatrischen Krankenhauses in Köln und erlebt natürlich tagtäglich, dass diese schweren Erkrankungen, obwohl sie allgegenwärtig sind, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen werden. Das geht so weit, dass kaum jemand sich in so eine Klinik traut und dass Patienten, die dort behandelt werden, von ihren Freunden oder Nachbarn kaum mal besucht werden. Ich denke schon, dass man diesen psychiatrischen Kliniken den Stellenwert geben sollte, den sie tatsächlich haben, da sie auch wirklich ein stabilisierender und gesundheitserhaltender Faktor für unsere Gesellschaft sind. Man sollte da keine „No-Go-Area“ draus machen.

Ich denke, die andere Seite ist die, die ich auch immer mehr vertreten habe, dass man den Betroffenen vor allem Mut machen muss. Das kann ich besser erreichen, indem ich eher positive Seiten des Ganzen zeige. Ich denke, eine positive Prognose kann ich dadurch erreichen, indem ich sehr früh den Betroffenen erreiche und ihm sage: „Wenn du jetzt früh was tust, dann kannst du eine ganze Menge negativer Dinge verhindern“. Ich weiß nicht, ob eine zu drastische Darstellung einer psychiatrischen Klinik gerade die Vermeidung der ganzen Thematik unterstützen würde. Das sind aber erstmal Beobachtungen aus meinem Alltag, das kann wissenschaftlich gesehen auch ganz anders aussehen.

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Psychische Erkrankungen mit einer Selbstverständlichkeit behandeln

Über welche Themen wünschen Sie in journalistischer Berichterstattung mehr zu lesen, wenn es um psychische Erkrankungen geht?

Ciupka-Schön: Ich denke es ist wichtig, dass es in der Zukunft eben kein Tabu-Thema mehr ist und dass es für uns eine Selbstverständlichkeit wird, dass wir für eine stressbedingte psychosomatische Störung genauso die Hilfe brauchen, wie für das, wofür man sonst normale Medizin bekommt. Es gibt keine guten und keine schlechten Diagnosen. Es gibt keine gute und keine schlechte Behandlung. Das wäre das, was ich mir im Journalismus wünschen würde. Das hieße auch, dass man zum Beispiel die Depression, die mit 25% Prävalenz in der Bevölkerung die häufigste Krankheit überhaupt ist - und mit 4% Prävalenz in der Bevölkerung ist auch die Zwangserkrankung eine der häufigsten Erkrankungen -, im Journalismus mit einer gewissen Selbstverständlichkeit gehandhabt werden würde.

Brechen wir mehr mit Tabus?

Hat sich in den vergangenen Jahren schon etwas dahingehend verändert? Können Sie beobachten, dass mehr Tabus gebrochen werden?

Ciupka-Schön: Ich habe wie gesagt keine wissenschaftliche Antwort darauf. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich in diesen fünf Jahren von 1995 bis 2000 als Geschäftsführer der deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen allein 22 verschiedene Fernsehauftritte und Interviews bei verschiedenen Medienformaten gehabt habe, und ich habe wirklich mit beobachten können, wie in dieser Zeit die Aufmerksamkeit in der Gesamtbevölkerung gestiegen ist und auch sehr viele Betroffene aus ihrem Schattendasein herausgefunden haben. Es hat damals 15-20 Jahre gebraucht, bis Betroffene einer Zwangserkrankung das erste Mal therapeutischen Kontakt gesucht haben. Ich denke, diese Zahl ist heute erheblich kürzer geworden. Man sieht heute in den niedergelassenen Praxen auch häufiger sehr junge Menschen, die hoffentlich auch sehr früh zielführende Behandlungen bekommen.

"Es sollte eine realistische und eine sehr wertschätzende Darstellung sein."

Abschließend: Was würden sie Journalist:innen als Tipp mitgeben, wenn sie über Tabu-Themen berichten wollen?

Ciupka-Schön: Betroffene habe ich immer dann motivieren können, wenn ich sicherstellen konnte, dass es Respekt und Wertschätzung in der Berichterstattung gibt. Also dass man als Betroffener, der interviewt wird, in seinen Bedürfnissen und seinem Leid gesehen wird. Ich glaube, dass es heute bei den privaten Medien die Tendenz dazu gibt, dass alles immer schnelllebiger sein muss und nicht viel kosten darf. In sehr schnelllebigen Formaten werden Betroffene unter Umständen verheizt.

Wenn man sich als Journalist mehr Zeit nehmen kann, ist eine ganzheitliche, wertschätzende Betrachtung, wo nicht nur die Störung, das Sensationelle und Ungewöhnliche gezeigt wird, möglich. Ungewöhnlich muss es zwar sein, sonst wird es auch niemanden interessieren. Insofern ist es schon wichtig, dass man etwas Interessantes darbietet, aber dabei nicht sensationslüstern ist. Es sollte eine realistische und eine sehr wertschätzende Darstellung sein. Dann kann auch ein Betroffener, der sich für so etwas zur Verfügung stellt, hinterher nicht einfach nur sagen, er habe sich geopfert, sondern er kann auch aus einer Situation herausgehen und das Gefühl haben: „Ich habe etwas für mich selbst getan. Ich habe das Versteckspiel beendet und das tut mir im Endeffekt selbst gut“.

Klicke HIER, um Teil 1 des Interviews zu lesen. 

Klicke HIER, um Teil 2 des Interviews zu lesen.

Über die Autoren
Alicia Schweizer

Alicia Schweizer ist selbst OCD-Betroffene und setzt sich dafür ein, psychische Erkrankungen öffentlich zu entstigmatisieren. Im Zuge ihres Masterarbeitsprojekts hat sie sich mit der medialen Darstellung psychischer Erkrankungen befasst. Dafür hat sie mit Burkhard Ciupka-Schön auch darüber gesprochen, wie journalistische Medien dazu beitragen können, OCD-Betroffene aus ihrem Schattendasein herauszuholen.

Burkhard Ciupka-Schön

Burkhard Ciupka-Schön ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen und war von 1995 bis Ende 2000 deren Geschäftsführer. Er ist psychologischer Psychotherapeut und Ambulanzleiter in eigener Praxis. Als Dozent und Supervisor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bildet er angehende Psychotherapeuten aus. Sein Therapie- und Lehrfokus sind Zwangserkrankungen. Burkhard Ciupka-Schön ist Autor des Buches Zwänge bewältigen - Ein Mutmachbuch*.