Wie werde ich Schuldgefühle los (bei OCD)?
Von Dr. Katharina Bey

Viele Zwänge werden von ausgeprägten Schuldgefühlen begleitet. Beispielsweise erleben manche Betroffene von Kontrollzwängen die reine Möglichkeit, einen folgenschweren Fehler gemacht zu haben, als so bedrohlich, dass ein starkes Schuldgefühl entsteht, welches sie durch wiederholte Zwangshandlungen zu reduzieren versuchen. Bei Betroffenen von aggressiven oder sexuellen Zwangsgedanken kann allein das Denken eines unwillkürlichen Gedankens Schuldgefühle auslösen. Wieso Zwänge oft mit Schuldgefühlen verknüpft sind und wie du Ihnen im Rahmen von Expositionen begegnen kannst, erfährst du in diesem Artikel.
Max biegt mit dem Auto an einer Kreuzung ab. Immer wieder schaut er in den Rückspiegel und seine Gedanken rasen: „Habe ich auch wirklich niemanden übersehen? Vielleicht war da doch ein Kind im toten Winkel. Irgendwie hat das Auto so komisch geruckelt. Nicht auszudenken, was da passiert sein könnte! Eigentlich bin ich langsam gefahren und habe aufgepasst, aber wenn nun doch… ich will gar nicht daran denken.“
Sein Atem wird flacher, die Hände beginnen zu schwitzen und ein lähmendes Gefühl der Schuld drückt auf seine Brust. An der nächsten Seitenstraße dreht er um und fährt zurück, um die quälende Unsicherheit aufzulösen. Er nähert sich der Kreuzung aus der anderen Richtung, ganz langsam. Es ist nichts zu sehen.
Vergleichbare Situationen kennst du als Betroffener einer Zwangsstörung vermutlich nur zu gut – auch wenn sie bei dir vielleicht ganz anders aussehen. Insbesondere, wenn eine vermeintliche Gefährdung anderer Menschen auf dem Spiel steht, können sich starke Schuldgefühle einstellen. Weitere typische Beispiele für die Verknüpfung von Zwang und Schuld sind:
- „Wenn ich beim Durchschreiten der Zimmertür einen schlechten Gedanken habe, könnte meiner Mutter etwas Schlimmes passieren. Dafür fühle ich mich augenblicklich schuldig.“ (Magische Zwangsgedanken)
- „Wenn der Herd Feuer fängt, weil ich ihn nicht ausgeschaltet habe, und dadurch jemand stirbt, bin ich schuld. Das könnte ich mir niemals verzeihen.“ (Kontrollzwänge)
- „Wenn ich eine mögliche Gefahrenquelle (z. B. Scherben auf dem Boden) erkenne und nicht beseitige, fühle ich mich schuldig dafür, dass sich jemand daran verletzen könnte.“ (Kontrollzwänge)
- „Wenn ich mich nicht moralisch einwandfrei verhalte, trage ich die Schuld für alle Konsequenzen.“ (Moralische Zwangsgedanken)
- „Allein dadurch, dass ich pädophile, rassistische oder aggressive Gedanken habe, fühle ich mich schuldig.“ (Sexuelle oder aggressive Zwangsgedanken)
- „Es könnte passieren, dass ich einer wichtigen beruflichen E-Mail versehentlich ein unanständiges Bild anhänge. Wenn ich meine E-Mails nicht drauf kontrolliere, wäre ich selbst schuld, wenn ich meinen Job verliere und befreundete Kolleginnen sich von mir abwenden.“ (Kontrollzwänge)
Oft gehen Schuldgefühle auch mit Scham einher – einer Emotion, die so unangenehm ist, dass man augenblicklich im Erdboden versinken möchte. Während Schuldgefühle besonders eng mit Gedanken an das mutmaßliche Fehlverhalten verbunden sind, steht bei Scham das emotionale Erleben stärker im Vordergrund. Übermäßige Scham kann zudem mit Selbstabwertungen und einem geringen Selbstwert einhergehen: Du hast dann nicht nur das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, sondern ein grundsätzlich fehlerhafter und wertloser Mensch zu sein.
Da sich Schuld und Scham so quälend anfühlen, ist es gut nachvollziehbar, dass du diese Gefühle schnellstmöglich loswerden möchtest, sobald sie aufkommen. Damit dies jedoch langfristig und nachhaltig gelingen kann, ist es zunächst wichtig zu verstehen, welchen Nutzen Schuld- und Schamgefühle grundsätzlich erfüllen, und welche Faktoren dazu beitragen können, dass manche Personen besonders stark zu diesen Gefühlen neigen.
Welchen Sinn haben Schuldgefühle?
Sowohl Schuld- als auch Schamgefühle entstehen üblicherweise in Reaktion auf einen (tatsächlichen oder vermeintlichen) Fehler oder eine Pflichtverletzung. Im Gegensatz zum Gefühl der Angst, das ebenfalls viele Zwänge begleitet, sind Schuld und Scham jedoch keine Basisemotionen, die von Geburt an angelegt sind. Sie werden vielmehr im Kleinkindalter über Modelllernen und die Erziehung gelernt und erfüllen eine wichtige Funktion für den Erhalt sozialer Beziehungen. Schuld- und Schamgefühle dienen uns als Warnsignal, wenn wir gegen Normen oder Erwartungen verstoßen haben, und motivieren uns zur Wiedergutmachung und Verhaltensänderung.
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Zum Info-LeitfadenBei vielen Betroffenen von Zwangsstörungen ist dieser „normative Alarmdetektor“ jedoch überaktiv und erzeugt bereits bei der bloßen Möglichkeit eines Fehlers starke Schuldgefühle. Auch die Vorstellung der Reue, die man im Falle eines tatsächlichen Fehlers empfinden würde, wird als so unangenehm erlebt, dass Betroffene umfangreiche Zwangshandlungen ausführen, um dieses Gefühl zu neutralisieren.
Begleitende körperliche Reaktionen wie schwitzen oder schamvolles Erröten senden einerseits das Signal an unsere Mitmenschen, dass wir uns der Schuld bewusst sind, und motivieren uns andererseits zur Verhaltensänderung. Schuld- und Schamgefühle dienen somit dazu, die Beziehung zur sozialen Gruppe zu stärken, wenn diese durch ein Fehlverhalten gefährdet sein sollte.
Da ein Ausschluss aus der sozialen Gruppe entwicklungsgeschichtlich gleichbedeutend mit dem Tod des Einzelnen war, hatten Personen mit einer gewissen Sensitivität für Schuld einen Überlebensvorteil. Gleichzeitig war es für die gesamte Gruppe von Nutzen, wenn einzelne Personen potenzielle Gefahrenquellen schnell erkannten.
Zwar ist die kulturelle Entwicklung in den letzten Jahrhunderten rasant vorangeschritten, wodurch sich die tatsächliche Gefahr eines sozialen Ausschlusses deutlich reduziert hat; die biologische Evolution des Gehirns benötigt jedoch wesentlich längere Zeiträume, sodass sich das menschliche Gehirn und seine Alarmdetektoren weiterhin auf einem vorzeitlichen Stand befinden. Daher können Schuldgefühle sich auch in der heutigen Zeit noch nahezu lebensbedrohlich und kaum aushaltbar anfühlen – insbesondere, wenn sie mit prägenden Situationen aus der Kindheit verknüpft sind. Denn für ein Kind ist ein drohender sozialer Ausschluss noch existenzieller als für einen Erwachsenen.
Woher kommen übermäßige Schuldgefühle?
Für die Frage nach dem Ursprung verstärkter Schuldgefühle spielen meist sowohl persönliche Lebens- und Lernerfahrungen als auch die Funktionalität der Zwangsstörung eine zentrale Rolle. Einerseits kann es sein, dass du schon früh in deiner Kindheit gelernt hast, dass es wichtig ist, bloß keine Fehler zu machen – entweder, weil diese übermäßig stark bestraft wurden oder indem nahe Bezugspersonen vorgelebt haben, dass Fehler immer vermeidbar sind, sofern man sich nur genug anstrengt. Manche Betroffene berichten sogar, dass Schuldgefühle explizit verstärkt wurden durch Sätze wie: „Jetzt hast du schon wieder nicht aufgepasst! Das ist alles deine Schuld!“
Auch kommt es manchmal vor, dass Betroffene in Familien aufgewachsen sind, in denen ein Elternteil oder Geschwisterkinder besonders pflegeintensiv oder aufmerksamkeitsbedürftig war. In diesen Fällen kann es passieren, dass dem nach außen hin weniger bedürftig wirkenden Kind offen oder implizit die Rolle der „tragenden Säule“ in der Familie zugeschrieben wird („Dein Bruder ist ja so schwierig, aber auf dich kann ich mich zum Glück immer verlassen“), wodurch ein überhöhtes Verantwortungsbewusstsein entstehen kann. Auch Ausgrenzungserfahrungen und die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Minderheit (z. B. aufgrund von Homosexualität oder einem Migrationshintergrund) können dazu beitragen, dass Personen einen starken Druck erleben, nicht negativ aufzufallen. Darüber hinaus können traumatische Erlebnisse wie Missbrauch tiefsitzende Schuld- und Schamgefühle auslösen. Aber auch weniger gravierende Erfahrungen wie die übermäßige Betonung von Moral und sozialen Normen in der Erziehung können einen Grundstein dafür legen, dass du vermehrt zu Schuldgefühlen neigst.
Diese Veranlagung kann durch stressvolle Lebensereignisse wie eine schwierige Entwicklungsaufgabe (z. B. Auszug, Ausbildungswahl oder Berufseinstieg), einschneidende Veränderungen im Alltag oder einen Todesfall im Umfeld noch verstärkt werden. Denn Schuldgefühle erfüllen in vielen Fällen eine weitere wichtige Funktion: Sie schützen uns vor Gefühlen von Kontrollverlust und Hilflosigkeit, die oftmals noch schwerer zu ertragen wären. Beispielsweise erleben viele Opfer von sexualisierter Gewalt starke Schuldgefühle, obwohl sie objektiv keinerlei Schuld trifft. Trotzdem halten sie an der Annahme fest, dass sie sich falsch verhalten haben und den Übergriff hätten verhindern können, wenn sie doch nur anders gehandelt hätten. Es fällt ihnen leichter, sich selbst die Schuld zu geben – auch wenn sie objektiv keine tragen –, als sich mit dem Gefühl völliger Hilflosigkeit und des Kontrollverlustes zu konfrontieren.
In ähnlicher Form besteht das übergeordnete Ziel vieler Zwangshandlungen darin, dir ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit vorzuspielen. Auch wenn es paradox klingt: Für viele Menschen ist die reine Möglichkeit, selbst schuldig an einem schlimmen Geschehnis sein zu können, leichter erträglich als zu akzeptieren, dass sie keinerlei Kontrolle darüber haben (z. B. bei magischen Zwangshandlungen, die wiederholt ausgeführt werden, damit einer geliebten Person nichts Schlimmes zustößt). Denn wer potenziell schuldig sein kann, ist auch in der Position, Schlimmeres verhindern zu können – und erlebt damit ein Gefühl von Kontrolle. Mit Zwangshandlungen bietet der Zwang das passende „Angebot“, um diese Kontrolle scheinbar auszuüben.
Fassen wir also zusammen: Kontrolle und Sicherheit sind elementare menschliche Bedürfnisse. Wenn du die Erfahrung gemacht hast, dass diese Bedürfnisse grundlegend erschüttert wurden und unterstützende Faktoren fehlten, können Zwänge als Bewältigungsstrategie dienen. Auf dem Nährboden gelernter Glaubenssätze, z. B., dass Fehler unter allen Umständen zu vermeiden sind, wachsen Zwänge besonders gut. Sie lassen dich dem Gefühl nach Kontrolle und Gewissheit hinterher hasten, führen aber unweigerlich dazu, dass du an dem Anspruch, keinerlei Fehler machen zu dürfen, scheitern wirst – was die Schuldgefühle weiter verstärkt.
Das Gehirn von Menschen mit Zwängen reagiert stärker auf Fehler
Tatsächlich ist die Fehlersensitivität, also das Ausmaß, wie stark dein Gehirn auf einen selbstbegangenen Fehler reagiert, bei Betroffenen von Zwangsstörungen nachweislich erhöht. Verantwortlich hierfür ist der sogenannte ACC – eine Gehirnregion, die Teil der bei Zwängen veränderten fronto-striatalen Schleifen ist. Auch erstgradig Verwandte von Betroffenen weisen eine tendenziell höhere Fehlersensitivität des ACC auf, was darauf hindeutet, dass es sich um eine zumindest teilweise erblich bedingte Veranlagung handeln könnte. Studienergebnisse zeigen, dass eine erhöhte Fehlersensitivität nicht mit dem Schweregrad der Zwangsstörung zusammenhängt und auch nach einer erfolgreichen kognitiven Verhaltenstherapie bestehen bleibt – was aber kein Grund zur Entmutigung sein sollte. Im Gegenteil zeigt dieser Befund, dass es dir auch trotz einer erhöhten Fehlersensitivität gelingen kann, die Symptombelastung durch die Zwänge deutlich zu reduzieren. Das Gehirn kann also lernen, tatsächliche oder mögliche Fehler als weniger gravierend zu bewerten und die Verknüpfung von Fehlern und Schuldgefühl lockern.
Nun kennst du die wesentlichen Funktionen, Entstehungsfaktoren und biologischen Grundlagen von Schuldgefühlen. Vielleicht bemerkst du auch schon, wie dieses Wissen dir dabei hilft, dir selbst gegenüber mitfühlender und verständnisvoller zu sein. Doch was kannst du im nächsten Schritt konkret tun, um deine Schuldgefühle loszuwerden?
Was dir helfen kann, Schuldgefühle loszuwerden
Ganz allgemein gilt: Kognitive Verhaltenstherapie mit Expositionen und Reaktionsmanagement ist die wirkungsvollste Therapie zur Behandlung von Zwangsstörungen. Im Rahmen von Expositionen stellst du dich deinen Zwangsgedanken und den unangenehmen Gefühlen, die diese auslösen, ohne Zwangshandlungen auszuführen, mental zu vermeiden oder Rückversicherungen von anderen Personen einzuholen. Das bedeutet, sowohl aufkommende Schuldgefühle als auch das Empfinden von Hilflosigkeit und Unsicherheit wahr- und anzunehmen. Es geht im Kern also gar nicht um das Loswerden von unliebsamen Gefühlen und Gedanken, sondern mehr ums Loslassen – das Loslassen des Versuchs, Kontrolle über Dinge auszuüben, die nicht kontrollierbar sind. Folgende Strategien können dir dabei helfen:
- Emotionale Beweisführung erkennen: Das befürchtete Szenario fühlt sich aufgrund der starken emotionalen Aktivierung so real an, als wäre es tatsächlich eingetreten. Angst und Schuldgefühle sind jedoch kein Beleg dafür, dass du wirklich etwas falsch gemacht hast.
- Radikale Akzeptanz von allen aufkommenden Gedanken und Gefühlen: Das bedeutet keineswegs, die Inhalte deiner Zwangsgedanken gutzuheißen. Akzeptanz ist vielmehr die bewusste Entscheidung gegen den Versuch, die eigenen Gedanken und Gefühle kontrollieren zu wollen.
- Gedanken an das Worst-Case-Szenario zulassen: Auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, besteht ein winzige Restrisiko dafür, dass dir tatsächlich ein Fehler mit gravierenden Konsequenzen unterlaufen könnte. Was genau würde im Anschluss passieren? Versuche die katastrophisierenden Gedanken nicht zu unterdrücken, sondern das Szenario zu Ende zu denken.
- Verständnis gegenüber deinem Gehirn zeigen: Bedanke dich bei deinem Gehirn dafür, dass es dich aufgrund seiner evolutionären und persönlichen Prägung auf eine potenzielle Gefahr hinweisen möchte (es weiß das einfach noch nicht besser), und entscheide dich aktiv dafür, nicht entsprechend diesem übersensiblen Alarmdetektor zu handeln.
- Werteorientierung fokussieren: Ziel der Exposition ist es nicht, dich moralisch abstumpfen zu lassen, sodass du keinerlei Schuldgefühle mehr empfindest. Im Gegenteil geht es darum, Flexibilität im eigenen Verhalten zurückzugewinnen und Selbstwirksamkeit zu erleben. Du (und nicht der Zwang) entscheidest, was dir wirklich wichtig ist und wie du handeln möchtest.
- Auch körperlich loslassen: Da es vielen Betroffenen zu Beginn schwerfällt, die mit den Schuldgefühlen verknüpften Grübelschleifen „gedanklich loszulassen“, kann es helfen, den Akt des Loslassens mit Gesten zu unterstützen. Balle dazu fest die Faust, sobald du bemerkst, dass du dich in Grübeleien verstrickst, und lasse nach einigen Sekunden der Anspannung ganz bewusst los – körperlich wie gedanklich.
Exposition als Brücke in die Vergangenheit
Die im Rahmen von Expositionen aufkommenden Gefühle von Angst, Schuld oder Scham kannst du tatsächlich auch als Brücke in die Vergangenheit nutzen (Therapeuten sprechen von der sogenannten Affektbrücke). Versuche dich deinem Gefühl dabei voll und ganz hinzugeben: Wo spürst du es im Körper? Und in welcher vergangenen Situation hast du dich vielleicht schon einmal ganz genauso gefühlt? Was hast du in diesem Moment gesehen, gehört, gespürt und vielleicht gerochen? Manchmal können Expositionen Erinnerungen an demütigende Erlebnisse reaktivieren, die du zum damaligen Zeitpunkt nicht richtig verarbeiten konntest. Diese Verknüpfung kann helfen, das Gefühl dort einzuordnen, wo es eigentlich hingehört, und dir bewusst zu machen, dass es in der heutigen Zeit seine Funktion verfehlt. Konkret kann das ungefähr so aussehen:
„Wenn sich der Zwangsgedanke aufdrängt, dass ich einen Fehler gemacht haben könnte, fühlt es sich fast so an wie damals in der Schule, als ich in der Klassenarbeit einen peinlichen Fehler gemacht hatte und dafür von der Lehrerin vor der ganzen Klasse bloßgestellt worden bin. Auch in anderen Situationen hat sie mich schikaniert. Als Kind hatte ich Angst vor ihr, aber heute bin ich erwachsen und weiß, dass ihr Verhalten absolut unangemessen war. Sie war eine alte Schachtel und ist vermutlich längst tot – aber in meinem Zwang lebt ein Teil von ihr weiter und darauf habe ich keine Lust mehr.
Mein Schuldgefühl mag sich real anfühlen, aber es hat keine Berechtigung. Fehler zu machen ist ok, menschlich, ja sogar essenziell wichtig für den Lernprozess – damals genauso wie heute. Leben bedeutet Risiko und ich entscheide mich bewusst für den Weg der Expositionen. Die hundertprozentige Kontrolle und Gewissheit sind eine Illusion, mit der der Zwang mich lange geködert hat, aber ich weiß, dass beides unerreichbar ist. Auch wenn es mir schwerfällt, übe ich mich in Akzeptanz gegenüber meinen Zwangsgedanken, Ängsten und Schuldgefühlen – und richte mein Verhalten nach dem aus, was mir wirklich wichtig ist.“
Unterstützende kognitive Techniken
Neben gezielten Expositionsübungen können kognitive Techniken helfen, deine Bewertung von Schuld zu verändern.
Übertriebene oder strenge Glaubenssätze erkennen
Der erste Schritt besteht dabei darin, dir die Glaubensätze und schuldbezogenen Gedanken bewusst zu machen, die dein Verhalten beeinflussen. Beispiele hierfür können sein:
- Fehler sind immer vermeidbar.
- Wenn mir ein gravierender Fehler unterläuft, begleitet mich das Schuldgefühl für immer – damit kann ich nicht leben.
- Ein Fehler ist nie vollständig wiedergutmachbar.
- Für meine Schuldigkeit spielt es keine Rolle, ob ich absichtlich oder versehentlich einen Fehltritt begangen habe.
- Eine potenzielle Gefahr nicht zu verhindern ist genauso schlimm wie eine aktive Straftat.
- Wenn das befürchtete Ereignis tatsächlich eintreten sollte (z. B. ich tatsächlich versehentlich eine Person mit dem Auto überfahre), trage ich die alleinige Verantwortung dafür.
- Dass mir in vergangenen Situationen ein Fehler unterlaufen ist, hätte ich eigentlich vorhersehen können.
Vielleicht findest du dich in einem dieser Sätze direkt wieder – vielleicht fällt dir auch eine Formulierung ein, die ein Elternteil oder eine Autoritätsperson immer wieder verwendet hat. Schreib diesen Satz auf, schau ihn dir an und mach dir bewusst, wo er herkommt. Hinterfrage, ob der Glaubenssatz wahr ist. Vielleicht hatte er in der Vergangenheit eine wichtige Funktion, indem er dich vor Gefühlen von Hilflosigkeit und Kontrollverlust beschützt hat. Aber hilft er dir heute auch noch? Welche Folgen hat es langfristig, weiterhin entsprechend diesem Glaubenssatz zu handeln? Und welche Chancen ergäben sich, wenn du unabhängig von ihm handeln würdest?
Verhaltensexperimente durchführen und Glaubenssätze verändern
Um den Wahrheitsgehalt des Glaubenssatzes zu überprüfen, kannst du zudem kleine Verhaltensexperimente durchführen, in denen du absichtlich Fehler machst oder eine Aufgabe nur zu 80 % erfüllst, und beobachten, was passiert: Wie reagieren andere Personen darauf? Werden deine Erwartungen bestätigt? Und kannst du das unangenehme Gefühl, etwas falsch oder nicht perfekt gemacht zu haben, wirklich nicht aushalten?
Darüber hinaus kann es hilfreich sein, den alten Glaubenssatz bewusst umzuformulieren, und ihm jedes Mal, wenn er aktiviert wird, die neue Formulierung entgegenzusetzen („Fehler sind immer vermeidbar“ → „Fehler sind unausweichliche Bestandteile eines erfüllten Lebens“). Hier geht es nicht darum, den alten Glaubenssatz zu unterdrücken, sondern die Starrheit im Denken aufzulockern und dich auf unterschiedliche Perspektiven einzulassen. Auf dieser Grundlage kannst du absichtsvoll entscheiden, nach welcher Perspektive du dein Handeln ausrichten möchtest.
Schuldkuchen / Verantwortungstorten
Vielleicht kennst du auch die Schuldkuchen- bzw. Verantwortungstortenübung. Bei dieser Übung geht es im ersten Schritt darum, dir bewusst zu machen, welche Faktoren neben dir selbst einen Einfluss auf ein bestimmtes gefürchtetes Ereignis haben. Anschließend wird jeder Einflussfaktor mit einer geschätzten Prozentzahl versehen und als Kuchenstück in einem Tortendiagramm dargestellt. Ein Arbeitsblatt zu dieser Übung findest du in unserem Mitgliederbereich.
Selbstmitgefühl
Nicht zuletzt spielt Selbstmitgefühl eine wesentliche Rolle in der Bearbeitung von Schuldgefühlen. Versuche, dir vergangene Fehler zu verzeihen, und sprich mit dir selbst, wie du mit einem guten Freund sprechen würdest: verständnisvoll, freundlich und warmherzig. Dass sich das erst mal sehr ungewohnt anfühlt, ist vollkommen normal. Auch in dieser Hinsicht darfst du gnädig und geduldig mit dir selbst sein. Lange bestehende Denk- und Verhaltensmuster zu verändern braucht Zeit, ist aber mithilfe von Expositionen und ergänzenden kognitive Übungen auf jeden Fall möglich!
Hinweis: Es kann durchaus sein, dass du keine plausible Erklärung für den Ursprung deiner starken Schuldgefühle findest. Bei den beschriebenen Faktoren handelt es sich um mögliche Ursachen, die aber nicht auf jeden Einzelnen zutreffen müssen. Für die Wirksamkeit von Expositionen ist es nicht essenziell, den Ursprung deiner Schuldgefühle und dysfunktionalen Glaubenssätze im Detail zu kennen.
Weitere Ressourcen
Auf OCD Land findest du viele weitere nützliche Inhalte, die dich dabei unterstützen, deinen Zwang zu überwinden. Unser kostenloser Info-Leitfaden (PDF) hilft dir dabei, einen klaren Einstieg zu finden und herauszufinden, was dir in deiner Situation nun am meisten weiterhilft. Erfahre hier mehr über unseren Info-Leitfaden.
Über die Autoren
Dr. Katharina Bey ist Psychologische Psychotherapeutin und Leiterin der Spezialambulanz für Zwangsstörungen am Universitätsklinikum Bonn. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit forscht sie u. a. zu den genetischen Grundlagen der Zwangsstörung. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen und des Fachbuchs Zwangsstörungen - Ein evidenzbasiertes Behandlungsmanual*.